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Lion zwinkerte mir zu und flüsterte: »Wie gut das ist, wenn alle höflich sind!«

Das stimmte. Auf dem Avalon hätte sich ein Erwachsener bestimmt nicht bei einem Jungen entschuldigt, selbst wenn er ihn ohne Grund verdächtigt hatte.

»Schon gut!«, meinte ich. »Ich trage es Ihnen nicht nach!« Bis zum Abend spazierten wir durch Agrabad. Wir gingen auf den Platz, auf dem Tien später hingerichtet werden sollte. In dessen Zentrum erhob sich ein Holzgerüst, umhüllt mit rotem Stoff. Bisher zeigten sich nur wenige Menschen auf dem Platz, und wir versuchten, uns dem Gerüst zu nähern. Vielleicht konnte man sich darunter verstecken und eine Luke unter Tien herausschneiden, wenn er gebracht wurde. Zu uns kam aber ein Polizist, der uns äußerst höflich darüber belehrte, dass hier ein Verbrecher hingerichtet werden würde und das Ganze nichts für Jugendliche sei. Es wäre auch nicht erlaubt, sich hier einfach in der Nähe herumzutreiben, da es sich um eine Sache der Gerichtsbarkeit und nicht um eine Hip-Hop-Show handele.

Das bedeutete für uns, dass wir uns entfernen mussten.

Wir trieben uns noch eine Weile in der Nähe herum und rätselten, auf welche Art und Weise Tien hingerichtet werden sollte. Lion ging davon aus, dass er erschossen werden würde, da auf dem Gerüst weder ein Galgen, noch Handwerker, die ihn aufrichteten, zu sehen waren. Ich war der Meinung, dass er geköpft würde. Das alles brachte uns jedoch überhaupt nicht weiter, da beim Anblick des Platzes klar wurde, dass sich hier ungefähr fünfzigtausend Menschen versammeln würden. Auch ein Schlangenschwert würde uns nicht helfen können, den Phagen zu retten. Selbst wenn der mutige Industrielle Semetzki mit seinen Mädchen erscheinen würde, wäre Tien nicht zu retten.

»Wir sehen lieber nicht zu«, schlug Lion vor. Er war irgendwie enttäuscht und wurde nervös. »Ich möchte so etwas nicht erleben!«

Ich dachte nach. In meiner Brust breiteten sich Kälte und Widerwillen aus. Ich hatte überhaupt kein Interesse daran, die Hinrichtung mitzuerleben. Die Erinnerung daran war wach, wie wir in Tiens Raumschiff am Tisch gesessen waren, Abendbrot gegessen hatten und er alle möglichen, sicherlich ausgedachten, Phagengeschichten erzählt hatte, denn wer würde uns schon die wirklichen Geheimnisse verraten? Trotzdem hatten wir es interessant gefunden und gelacht.

»Es wäre feige, wenn wir nicht hingehen würden«, äußerte ich. »Er ist doch hier ganz allein. Tien schaut auf den Platz und dort sind nur Feinde.«

»Glaubst du, dass er uns sehen wird?«, fragte Lion und sah sich zweifelnd auf dem Platz um.

»Er wird es fühlen. Er ist ja ein Phag.«

Lion nickte und biss die Zähne zusammen.

»Wir müssen hingehen«, wiederholte ich.

Bis zur Hinrichtung verblieben noch vier Stunden. Wir schlenderten noch einmal durchs Zentrum. Hier war es sehr schön. Die Häuser unterschieden sich voneinander und ähnelten sich nicht so wie in den Wohngebieten. An kleinen Ständen wurde mit allen möglichen Dingen gehandelt, Cafés hatten geöffnet, obwohl in ihnen wenig Gäste saßen. Wir wollten weder essen noch trinken, noch konnten wir uns an der Stadt erfreuen.

»Und wenn unter dem Platz ein Kanalsystem ist?«, brütete Lion eine Idee nach der anderen aus. »Dort hineingehen, bis zum Gerüst kriechen… nein, das ist Blödsinn. Am Besten wäre es, einen Flyer zu entführen…«

Das alles war sinnlos. Wir wussten es beide. Wir konnten nichts machen, außer auf den Platz zu gehen und die Hinrichtung anzusehen.

»Ist das schlimm, wenn ein Mensch stirbt?«, wollte Lion wissen.

»Du hast das doch schon in deinen Träumen gesehen«, konnte ich nicht an mich halten. »Wie ich gestorben bin, zum Beispiel.«

»Das war im Traum«, erwiderte Lion trübselig. »Und in echt? Dieser Spion, den Stasj getötet hat?«

»Es war fürchterlich«, gab ich zu. »Wenn jemand stirbt, ist das schlimm. Aber damals fing ja das ganze Durcheinander an. Deshalb war ich abgelenkt. Und die eine Sache ist ein Spion, der mich töten will, Tien ist eine andere.«

»Was glaubst du, ist das eine Lüge mit der Beulenpest?«

»Eine Lüge!«, sagte ich mit Bestimmtheit.

Obwohl ich tief in meinem Innersten zweifelte. Vielleicht stimmte es doch? Denn die Phagen dienen dem Imperium an sich und nicht einzelnen Individuen oder auch Tausenden Menschen. Wenn ein Phag den Befehl erhält, wirft er auch eine Bombe auf einen Planeten und verseucht Wasserleitungen mit Viren.

Nach einer Stunde waren wir völlig ausgelaugt und begaben uns auf den Platz. Die Menschen kamen zuhauf. Bis sechs Uhr abends war fast niemand da, danach schien es, als ob sich Schleusentore geöffnet hätten und die Leute von überall herströmten. Offensichtlich ging der Arbeitstag zu Ende.

Zuerst kamen Männer und Frauen in streng geschnittenen Anzügen, Mitarbeiter der Regierungsbehörden. Dann erschienen eher sportlich gekleidete Menschen, wahrscheinlich aus der privaten Wirtschaft. Danach Arbeiter aus den Betrieben, die eine lange Fahrt ins Zentrum hatten. Sie waren einfach zu erkennen.

Gegen sieben Uhr schien der Platz schon voller Menschen, trotzdem trafen immer neue ein und die Massen begannen sich zusammenzudrängen. Lion und ich wurden bis zum Gerüst vorgeschoben, obwohl wir gerade dorthin nicht wollten. Viele Erwachsene schauten uns unwillig an, forderten uns jedoch nicht auf wegzugehen. Es war klar, dass man aus so einer Menschenmenge nicht mehr herauskonnte.

»Es ist sinnlos, dass wir hier sind«, murmelte Lion. »Hör mal, ich muss auf Toilette…«

»Wie willst du hier auf Toilette?«, erregte ich mich. »Reiß dich zusammen!«

Viertel vor acht erschien über dem Platz ein riesiger Flyer mit dem Zeichen der Regierung von Neu-Kuweit. Er senkte sich langsam über das Gerüst, ohne vollständig auf der Tribüne aufzusetzen. Sonst hätte er die Balken durch sein Gewicht zum Einsturz gebracht. Die Türen am Bug öffneten sich und ein Dutzend Polizisten, Zivilisten und Tien stiegen aus.

Die Menschenmenge hielt die Luft an.

Tien wurde in die Mitte des Gerüsts gestellt, wo sich eine kleine Erhebung in Form eines Podests befand. Er trug eine triste, graue Robe. An seinen Händen und Füßen sah man die Ringe der magnetischen Fesseln. Der Phag wirkte sehr ruhig und schaute nicht in die Menschenmenge, sondern über die Köpfe hinweg.

Die Polizisten formierten sich seitlich in einer Reihe, jeder hielt in seiner Hand einen Strahlenblaster.

»Sie werden ihn erschießen«, flüsterte mir Lion ins Ohr. »Das ist gut. Das tut nicht so weh.«

Gleichzeitig erhob sich der Flyer in den Himmel und verharrte unbeweglich etwa hundert Meter über dem Gerüst. Ein dünnes, glänzendes Seil wurde aus seinem Rumpf heruntergelassen.

Die Masse staunte.

Tien schaute verächtlich auf den Zivilisten, der das Seil auffing und ihm die Schlinge um den Hals legte. Und wieder schaute er über die Köpfe der Leute hinweg.

»Das ist entwürdigend«, flüsterte Lion. »Es ist ein unehrenhafter Tod, wenn sie ihn aufhängen!«

Während er das äußerte, trat einer der Zivilisten an den Rand des Gerüsts und begann zu reden. Seine Stimme wurde durch unsichtbare Lautsprecher verstärkt und schallte über den ganzen Platz. Und nicht nur über den Platz, sie war sicher in der ganzen Hauptstadt zu hören.

Dieser Zivilist war der Staatsanwalt von Agrabad.

Er verlas das Urteil des Tribunals, wonach Sjan Tien, Bürger von Avalon, sich auf dem zur Föderation des Inej gehörenden Planeten Neu-Kuweit eingeschlichen hätte mit Dokumenten, die ihn als Bodyguard des persönlichen Vertreters des Imperators, der in einer diplomatischen Mission auf Neu- Kuweit weilte, auswiesen.

Aber leider erwiderte der Bürger Sjan Tien, der mit aller der Föderation eigenen Gastfreundschaft aufgenommen worden war, die ihm erwiesene Güte mit Gräueltaten. Heimlich verließ er das ihm zugewiesene Hotelzimmer, verschaffte sich Zutritt zum Territorium der hauptstädtischen Wasserwerke und wurde dort von der Wache beim Versuch, Gift in die Filteranlagen einzubringen, verhaftet. Die daraufhin veranlasste Analyse ergab, dass sich in dem von ihm mitgeführten Reagenzglas Erreger der Beulenpest, einer schrecklichen Seuche, die Millionen Bürger von Neu-Kuweit vernichten würde, befanden. Außerdem stellte sich während der Ermittlungen heraus, dass Sjan Tien ein so genannter Phag, Mitglied einer unmittelbardemImperatorunterstelltengeheimen Terrorgruppe, war. Auf Entscheidung des Tribunals wurde die diplomatische Immunität des Saboteurs Tien aufgehoben, und er wurde verurteilt — hier vergaß die Menschenmenge zu atmen — zum Tode durch den Strang. Das Hängen solle erfolgen durch Anbringung einer Schlinge am Halse Sjan Tiens, wobei diese ein Ende eines festen, einhundert Meter langen Seils bilde, dessen anderes Ende am Gerichtsflyer befestigt sei. Letzterer solle auf einer Höhe von hundert Metern schweben und auf Befehl des Staatsanwalts eine Höhe von zweihundert Metern einnehmen…