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Zuerst zuckte ich mit den Schultern, dann nickte ich.

»Sie rief mich vor cirka zwanzig Minuten an«, sagte die Direktorin mit gesenkter Stimme, als ob ihre Tochter sie hören könnte. »Du schienst etwas bedrückt zu sein und wolltest eigentlich nirgendwohin… Also bat sie darum, dir besonders viel Aufmerksamkeit zu widmen. Das ist eigentlich überflüssig, denn es gehört zu meiner Arbeit, aufmerksam zu sein. Aber verplappere dich nicht, dass du von diesem Anruf weißt, okay?«

Miss Neige lächelte. Mir war es einerseits unangenehm — wozu nur diese Zärtlichkeiten -, anderseits aber durchaus angenehm.

Sogar auf Neu-Kuweit gab es nette Leute, die sich um mich kümmerten. Nicht, weil ihnen das Gehirn amputiert wurde und sie gezwungen wurden, sich nett zu verhalten, sondern einfach so.

»Ich werde nichts sagen«, versprach ich.

»Das ist hervorragend.« Die Direktorin wandte sich Edgar zu: »Ich sehe, dass Sie in Eile sind. Fahren Sie nur. Es ist alles in Ordnung.«

Mister Edgar umarmte Lion so schnell, als würde er sich verbrennen, klopfte mir auf die Schulter und verließ uns.

»Und wir sehen uns jetzt das College an«, teile Miss Neige mit. »Der Unterricht beginnt bei uns gleich am Morgen, aber ich gebe euch heute einen Tag frei. Schaut euch im College um, macht einen Spaziergang durch die Stadt… ihr wart doch noch nicht in Agrabad, ihr Weltreisenden?«

»Nein«, erwiderte ich. Wieder kamen wir auf gefährliche Themen.

»Und was hat euch in den Wald verschlagen?«, fragte die Direktorin, wobei sie uns um die Schultern fasste und abwechselnd mir und Lion in die Augen schaute. »Ich verstehe schon — Abenteuer, freies Leben, aber trotzdem?«

»Wir hatten Angst«, begann ich. »Alle lagen da wie versteinert…«

Miss Neige schüttelte den Kopf. »Phantasten… ist schon gut, Kinder, was war, ist gewesen. Wir werden die Sache ruhen lassen, einverstanden?«

Hirnamputiert. Sie glaubt uns also nicht, das heißt, sie ist hirnamputiert.

»Gut, seien wir ehrlich«, gab ich mein Einverständnis. »Wir wollten einfach ein paar Tage wie die Urmenschen leben, im Wald. Dann haben wir uns verlaufen.«

»Wir unterrichten hier im Sportunterricht Orientierung im Gelände«, beruhigte uns die Direktorin. »Und ihr werdet richtige Exkursionen machen. Aber jetzt zeige ich euch den Bereich Bombay. Dort wohnen die Jugendlichen im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren.«

Kapitel 5

Indien schien ein interessantes Land. Im Bereich Bombay waren alle Wände mit altertümlichen indischen Malereien bedeckt, grell und geheimnisvoll. Manche der abgebildeten Menschen hatten eine blaue Hautfarbe, manche vier oder sechs Arme. Dazu waren wunderliche Tiere dargestellt — Elefanten, die es nur auf der Erde gibt. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass Elefanten fliegen können. Das hatte ich in einem Zeichentrickfilm für Kinder gesehen. Ob das aber wirklich so war? Es war mir peinlich, danach zu fragen!

Außerdem gab es viele Wintergärten mit üppiger tropischer Vegetation und lebenden Vögeln. Das Sportareal befand sich unter der Erde, dorthin begaben wir uns in einem geräumigen Fahrstuhl. Hier besichtigten wir mehrere Schwimmbäder, ein großes Feld für Ballspiele und einen Raum für Leichtathletik. Im Schwimmbad trainierten gerade die Jungen, auf dem Feld spielten die Mädchen Volleyball.

Wir wurden angeschaut, aber niemand näherte sich uns. Bestimmt deshalb, weil wir mit der Direktorin zusammen kamen.

»Das College Pelach hat sich zum Ziel gesetzt, die zukünftigen Mitarbeiter der Regierung, die Manager von Firmen und Unternehmen sowie die künstlerische Intelligenz zu erziehen«, erläuterte Alla Neige vertraulich. »Das heißt also die Elite. Bei uns ist alles vom Feinsten.«

»Das bedeutet, die Ausbildung bei Ihnen ist sehr teuer?«, erkundigte ich mich.

»Sie wird teilweise vom Staat bezahlt«, wich die Direktorin aus.

Ich beharrte auf eine Antwort: »Und wer bezahlt für uns?«

»Das College. Wir haben Fonds für begabte Schüler.«

Lion und ich sahen uns an.

»Wir sind begabt?«, fragte Lion zweifelnd.

Wir gingen zum Fahrstuhl zurück und fuhren wieder in unseren Wohnbereich. Anna Neige war unsicher, weil sie uns nicht belügen wollte, jedoch auch nicht die ganze Wahrheit eröffnen durfte.

»Ihr seid etwas Besonderes«, äußerte sie endlich. »Ihr habt ein ungewöhnliches Verhalten gezeigt.«

»Weil wir in den Wald gegangen sind?«, fragte Lion.

»Ja. Das neue Imperium braucht solche Leute wie euch. Als meine Tochter mir über eure Rückkehr berichtete, dachte ich sofort, diese Jungs müsste ich zu uns holen.«

Neige betrachtete uns wieder mit ihrem gutmütigen Lächeln.

Und ich dachte: Sie gehört durchaus nicht zu den Hirnamputierten. Sie umgeht es, den Tag zu erwähnen, an dem Inej den Planeten erobert hatte.

Alla Neige führte uns noch durch den Schulbereich von Bombay. Danach überreichte sie uns den Schlüssel zu unserem Zimmer. Hier gab es keine Schlafsäle, wie in den einfacheren Colleges, sondern Zweibettzimmer. Dann verließ sie uns.

Wir blieben allein in der Mitte des Korridors — bedrückt, verloren und angespannt. Mir gefiel das, was hier passierte, immer weniger. Wie schön wäre es, wenn wir jetzt durch den Wald zögen, Fische fingen und in Hütten schliefen…

»Schauen wir uns das Zimmer an?«, fragte Lion.

Die Unterkunft gefiel uns. Das Zimmer wirkte, als bestünde es aus zwei Dreiecken, die diagonal geteilt waren: In jedem Dreieck standen ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch. In einem Teil war alles orange — auch der Teppich, die Tapeten hatten ein orange Muster und sogar die Bettwäsche war orange. Im anderen war alles dunkelblau. Auf den Schreibtischen standen teure Laptops mit einem starken Akku, einem hervorragenden Bildschirm und einer holographischen Tastatur sowie alle Geräte für das Schreiben von Hand. Das heißt, hier erwartete uns ein klassischer Unterricht. Zusätzlich fanden wir noch alle möglichen Kleinigkeiten für die Schule.

»Ich kann gut handschriftlich schreiben«, brüstete sich Lion.

Ich konnte es auch, wusste aber nicht, wie gut, und gab lieber nicht damit an.

»Welche Hälfte nimmst du?«, wollte Lion wissen.

»Die orange«, erwiderte ich.

»Die blaue«, wählte Lion. »Prima. Mann, was für eine schöne Aussicht…«

Das Fenster war in seiner blauen Zimmerhälfte. Dafür war in meiner Hälfte die Badtür. Das Bad war klein, aber sehr komfortabel.

Wir schauten aus dem Fenster. Von unserer fünften Etage sah man den ganzen Garten um das College herum, ebenfalls die Straßen und eine sehr schöne Moschee auf der gegenüberliegenden Seite.

Ich schaute Lion fragend an.

»Gehen wir«, sagte er. Uns beiden war klar, dass man sich hier über nichts Wichtiges unterhalten sollte. In allen Colleges gab es Abhöreinrichtungen, manchmal auch Videokameras, damit die Schüler nicht über die Stränge schlugen.

Vorher schaute ich noch schnell in den Schrank und fand dort zwei Schuluniformen. Eine für jeden Tag mit dunkelblauen Hosen und Anzugjacke, einem hellgrauen Hemd und einem Schlips mit dem Zeichen des Bereichs Bombay — einem Elefanten, der den Rüssel hebt, sowie Käppi und Schuhe. Die zweite Garnitur war ähnlich geschnitten, nur dass Anzug und Hemd weiß waren.

Lion fand die gleiche Kleidung in seiner Garderobe. Er zog sich sofort aus und probierte den Anzug an.

»Hör mal, das ist meine Größe, passt genau!« Er freute sich.

Ich probierte ebenfalls meinen Anzug an. Er saß wie angegossen, als ob man ihn für mich genäht hätte.

»Na ja, sie kannten ja unsere Größe, unser Gewicht«, meinte Lion unsicher und schaute mich an. Er war barfuß, nur in Hosen, und drehte sich, um festzustellen, ob nicht irgendwo etwas drückte oder flatterte.

»Und außerdem wussten sie, welche Farbe wir wählen würden«, stimmte ich zu. »Komm, wir ziehen das später an!«

Lion nickte. Eine Wanze in der Hemdennaht oder in einem Schuh zu verstecken war sehr einfach. Wir würden sie nicht finden. Die Wanze konnte wie ein normaler Faden aussehen und die Informationen einmal am Tag als chiffrierten Datenstrom weiterleiten. Kein Detektor könnte sie orten.