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›Wo wohnt sie?‹ fragte er.

Ich nannte eine falsche Adresse. ›Das Haus hat ein halbes Dutzend Ausgänge‹, sagte ich, ›durch Keller und verbundene Straßen. Sie kann leicht fliehen, wenn Polizei käme. Sie wird nicht fliehen, wenn ich allein komme.‹

›Oder ich‹, erklärte Georg.

›Sie würde glauben, Sie hätten mich getötet. Sie hat Gift.‹

›Quatsch!‹

Ich wartete. ›Und was willst du dafür?‹ fragte Georg.

›Daß Sie mich laufen lassen.‹

Er lächelte eine Sekunde. Es war, als zeige ein Tier die Zähne. Ich wußte sofort, daß er mich nie loslassen würde. ›Gut‹, sagte er dann. ›Du kommst mit mir. Damit du keine Tricks machst. Du wirst es ihr sagen, während ich dabeistehe.‹ Ich nickte. ›Los!‹ Er stand auf. ›Wasch dich an dem Hahn da.‹

›Ich nehme ihn mit‹, sagte er zu einem der Bullen, der in einem Zimmer mit Geweihen sich herumlümmelte. Der Bulle salutierte und öffnete die Tür zu Georgs Wagen. ›Hier, neben mich‹, sagte Georg.

›Kennst du den Weg?‹

›Nicht von hier. Von der Cannebière aus.‹ Wir fuhren in die windige und kalte Nacht. Ich hatte gehofft, mich irgendwo, wenn das Auto langsamer fahren oder halten mußte, aus dem Wagen fallen zu lassen; aber Georg hatte meine Tür abgeschlossen. Rufen hätte auch nichts genützt; niemand kam einem Menschen, der aus einem deutschen Wagen rief, zu Hilfe, und bevor ich aus einer Limousine mit geschlossenen Fenstern zweimal hätte rufen können, wäre ich von Georg bewußtlos geschlagen worden.

›Mensch, hoffe, daß du die Wahrheit gesagt hast‹, knurrte er. ›Sonst lasse ich dich abhäuten und in Pfeffer legen.‹

Ich hockte zusammengesunken auf meinem Sitz und ließ mich vornüberfallen, als der Wagen einmal überraschend vor einem unbeleuchteten Karren bremste. ›Markiere keine Ohnmacht, Feigling!‹ schnauzte Georg.

›Mir ist schwach‹, sagte ich und richtete mich langsam hoch.

›Jammerlappen!‹

Ich hatte die Fäden meines Hosenaufschlags aufgerissen. Beim zweiten Bremsen konnte ich die Rasierklinge greifen; beim dritten, bei dem ich den Kopf gegen die Windschutzscheibe stieß, konnte ich sie im Dunkeln des Wagens in die Hand bekommen.«

Schwarz blickte auf. Ein feiner Schweiß bedeckte seine Stirn.»Er hätte mich nie losgelassen«, sagte er.

»Glauben Sie das nicht auch?«

»Natürlich nicht.«

»An einer Kurve rief ich, so scharf und laut ich konnte: ›Achtung! Links!‹

Der unerwartete Schrei wirkte, bevor Georg denken konnte. Sein Kopf flog automatisch nach links, er bremste und griff das Steuer fester. Ich warf mich gegen ihn. Die Klinge, die im Kork steckte, war nicht groß; aber ich traf ihn an der Halsseite und riß sie daran entlang über die Luftröhre. Er ließ das Steuerrad los und fuhr sich nach der Kehle. Dann sackte er nach der linken Seite gegen die Tür und stieß mit dem Arm auf die Klinke, die sich löste. Der Wagen schleuderte und fuhr in einen Klumpen Gebüsch. Die Tür flog auf und Georg fiel hinaus. Er blutete stark und röchelte.

Ich kletterte ihm nach und horchte. Eine sausende Stille umgab mich, in der der Motor zu brüllen schien. Ich stellte ihn ab, und die Stille war jetzt wie Wind, der rauschte. Es war das Blut in meinen Ohren. Ich beobachtete Georg und suchte nach der Klinge mit dem Korkstreifen. Sie schimmerte auf dem Trittbrett des Wagens. Ich nahm sie und wartete. Ich wußte nicht, ob Georg nicht plötzlich aufspringen würde; dann sah ich, wie er ein paarmal mit den Füßen stieß und still wurde. Ich warf die Klinge weg, nahm sie dann aber wieder auf und steckte sie in den Boden. Ich stellte das Licht ab und horchte. Es war still. Ich hatte vorher nichts weiter überlegt; jetzt mußte ich rasch handeln. Jede Stunde, die ich später entdeckt wurde, zählte.

Ich zog Georg aus und packte alle seine Sachen zusammen. Dann zerrte ich den Körper in das Gebüsch. Es würde eine Zeitlang dauern, bis man ihn entdeckte, und dann noch eine Zeitlang, bis man herausfinden konnte, wer er war. Vielleicht hatte ich Glück, und man verbuchte ihn einfach als ermordeten Unbekannten. Ich probierte den Wagen. Er war noch in Ordnung. Ich fuhr ihn zurück auf die Straße. Ich erbrach mich. Im Wagen fand ich eine Taschenlampe. Es war Blut auf dem Sitz und an der Tür. Beide waren aus Leder und leicht zu reinigen. An einem Graben benutzte ich Georgs Hemd dazu. Ich spülte auch das Trittbrett ab. Immer wieder leuchtete ich den Wagen ab und wischte, bis er sauber war. Dann wusch ich mich selbst und stieg wieder ein. Mir ekelte davor, auf Georgs Platz zu sitzen; ich hatte das Gefühl, er würde aus dem Dunkel mir in den Nacken springen. Ich fuhr los.

Ich ließ den Wagen ein Stück vom Haus entfernt in einer Seitengasse stehen. Es regnete jetzt. Ich ging über die Straße und atmete tief. Allmählich merkte ich, wie mich mein Körper schmerzte. Ich blieb vor einem Geschäft stehen, in dem Fische lagen, und sah einen Spiegel, der seitlich angebracht war. In dem dunklen Silber der unbeleuchteten Scheibe konnte ich nicht viel sehen; aber mein Gesicht war verschwollen und blutig, soviel ich sah. Ich atmete die feuchte Luft tief ein. Es schien mir unmöglich, daß ich nachmittags hiergewesen war, so lang war die Zeit dazwischen gewesen.

Es gelang mir, ungesehen an der Concierge vorbeizukommen. Sie schlief bereits und murmelte nur etwas. Es war für sie nichts Außergewöhnliches, daß ich spät zurückkam. Rasch ging ich die Treppe hinauf.

Helen war nicht da. Ich starrte auf das Bett und den Schrank. Der Kanarienvogel, geweckt durch das Licht, fing an zu singen. Die Katze erschien vor dem Fenster mit glühenden Augen und starrte herein wie eine verdammte Seele. Ich wartete eine Zeitlang. Dann schlich ich zu Lachmann hinüber und klopfte leise. Er war sofort wach.

Flüchtlinge haben einen leichten Schlaf ›Sind Sie -‹, sagte er, sah mich an und schwieg.

›Haben Sie meiner Frau etwas gesagt?‹ fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. ›Sie war nicht da. Und bis vor einer Stunde war sie nicht zurück.‹

›Gott sei Dank.‹

Er blickte mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

›Gott sei Dank‹, wiederholte ich. ›Dann hat man sie wahrscheinlich nicht gefaßt. Sie ist nur einfach ausgegangen.‹

›Nur einfach ausgegangen‹, wiederholte Lachmann. ›Was ist mit Ihnen passiert?‹ fragte er dann.

›Man hat mich vernommen. Ich bin entkommen.‹

›Die Polizei?‹

›Die Gestapo. Es ist vorbei. Schlafen Sie weiter.‹

›Weiß die Gestapo, wo Sie sind?‹

›Dann wäre ich nicht hier. Vor morgen früh bin ich weg von hier.‹

›Eine Sekunde!‹ Lachmann kramte einige Heiligenbilder und Rosenkränze hervor. ›Hier, nehmen Sie das mit. Es wirkt manchmal Wunder. Hirsch ist damit über die Grenze geschmuggelt worden. Das Volk in den Pyrenäen ist sehr fromm. Es sind Sachen, die vom Papst selbst gesegnet worden sind.‹

›Wirklich?‹

Er lächelte ein wunderschönes Lächeln. ›Wenn sie uns retten, sind sie sogar von Gott selbst gesegnet worden. Auf Wiedersehn, Schwarz.‹

Ich ging zurück und begann, unsere Sachen zu packen. Ich fühlte mich sehr leer, aber angespannt wie eine Trommel mit nichts darin. In Helens Schublade entdeckte ich ein Päckchen Briefe. Ich sah, daß sie Poste restante Marseille geschickt worden waren. Ich dachte nichts und legte sie in ihren Koffer. Ich fand auch das Abendkleid aus Paris und legte es dazu. Dann setzte ich mich an das Waschbassin und steckte meine Hand hinein. Die verbrannten Nägel schmerzten. Ich atmete auch mit Schmerzen, wenn ich Luft holte. Ich sah auf die nassen Dächer und dachte nichts.

Endlich hörte ich Helens Schritte. Sie stand wie ein zerstörter, schöner Geist in der Tür. ›Was machst du hier?‹ Sie wußte von nichts. ›Was ist mit dir?‹

›Wir müssen fort, Helen‹, sagte ich. ›Sofort.‹

›Georg?‹

Ich nickte. Ich hatte beschlossen, ihr so wenig wie möglich zu sagen.

›Was ist mit dir passiert?‹ fragte sie erschrocken und kam näher.

›Sie haben mich verhaftet. Ich bin entkommen. Sie werden mich suchen.‹