Wir saßen am Fenster des Restaurants und sahen auf die Straße. Wir konnten uns diesen Luxus erlauben, weil wir uns eine Woche lang nicht verstecken mußten. Plötzlich erschrak Helen und griff nach meiner Hand. Sie starrte in die wehende Dunkelheit. ›Georg!‹ flüsterte sie.
›Wo?‹
›In dem offenen Auto dort. Ich habe ihn erkannt. Er ist gerade vorbeigefahren.‹
›Hast du ihn bestimmt erkannt?‹
Sie nickte.
Es schien mir fast unmöglich. Ich versuchte, bei mehreren vorbeifahrenden Wagen die Leute, die darin saßen, zu sehen. Es gelang mir nicht; aber das beruhigte mich nicht.
›Warum sollte er gerade in Marseille sein?‹ fragte ich und wußte sofort, daß er, wenn er irgendwo sein würde, natürlich in Marseille wäre – dem letzten Fluchtort der Emigranten aus Frankreich.
›Wir müssen fort von hier‹, sagte ich.
›Wohin?‹
›Nach Spanien.‹
›Ist Spanien nicht noch gefährlicher?‹
Es bestanden Gerüchte, daß die Gestapo in Spanien wie zu Hause sei und daß Emigranten verhaftet und ausgeliefert worden seien; aber es gab zahllose Gerüchte in dieser Zeit, und man konnte nicht alle glauben.
Ich versuchte wieder den alten Weg: das spanische Durchreisevisum, das nur gegeben wurde, wenn ein portugiesisches Visum da war; und dies wieder war abhängig von einem Visum für ein anderes Land. Dazu kam dann noch die rätselhafteste aller bürokratischen Schikanen: das Ausreisevisum aus Frankreich.
Eines Abends hatten wir Glück. Ein Amerikaner sprach uns an. Er war etwas betrunken und suchte jemand, mit dem er englisch sprechen konnte. Nach einigen Minuten saß er an unserem Tisch und traktierte uns mit Getränken. Er war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und wartete auf ein Schiff, um nach Amerika zurückzukehren. ›Warum kommen Sie nicht mit?‹ fragte er.
Ich schwieg einen Augenblick. Die naive Frage schien das Tischtuch zwischen uns zu zerreißen. Da saß ein Mensch von einem anderen Planeten. Das, was für ihn so selbstverständlich war wie Sprechen, war für uns so unerreichbar wie das Siebengestirn. ›Wir haben keine Visa‹, sagte ich schließlich.
›Lassen Sie sich doch morgen welche geben. Unser Konsulat ist hier in Marseille. Sehr nette Leute.‹
Ich kannte die netten Leute. Es waren Halbgötter; um nur ihre Sekretäre zu sehen, wartete man Stunden auf der Straße. Später wurde erlaubt, im Keller zu warten, da öfter Emigranten auf der Straße von Gestapobeamten abgefangen worden waren.
›Ich gehe mit Ihnen morgen hin‹, sagte der Amerikaner.
›Gut‹, erwiderte ich und glaubte ihm nicht.
›Darauf wollen wir trinken.‹
Wir tranken. Ich sah das frische, ahnungslose Gesicht vor mir und konnte es kaum ertragen. Helen war fast durchsichtig an diesem Abend, als der Amerikaner uns von Broadways Lichtermeer erzählte. Fabelgeschichten in einer finsteren Stadt. Ich sah Helens Gesicht, als die Namen von Schauspielern aufklangen, von Stücken, von Lokalen, von dem ganzen holden Aufruhr einer Stadt, die nie einen Krieg gekannt hatte; ich war elend und trotzdem froh, daß sie zuhörte, denn bisher hatte sie allem, was Amerika hieß, eine sonderbar schweigende Passivität entgegengesetzt. Im Zigarettenrauch der Kneipe gewann ihr Gesicht mehr und mehr Leben, sie lachte und versprach, mit dem jungen Mann in ein bestimmtes Stück zu gehen, das er besonders liebte, wir tranken und wußten, daß am Morgen alles vergessen sein würde.
Es war nicht vergessen. Um zehn Uhr erschien der Amerikaner, um uns abzuholen. Ich hatte einen Katzenjammer, und Helen weigerte sich, mitzugehen. Es regnete; wir kamen zu dem dichtgedrängten Klumpen der Emigranten. Es war wie ein Traum; wir durchschritten ihn, er teilte sich vor uns wie das Rote Meer vor den israelitischen Emigranten des Pharao. Der grüne Paß des Amerikaners war der Goldene Schlüssel des Märchens, der jedes Tor öffnete.
Das Unbegreifliche geschah. Nonchalant erklärte der junge Mann, als er hörte, worum es sich handle, daß er für uns bürgen wolle. Es klang mir widersinnig; er war so jung. Mir schien, er müsse für so etwas älter sein als ich. Wir blieben ungefähr eine Stunde im Konsulat. Ich hatte Wochen vorher schon niedergeschrieben, warum wir gefährdet seien. Ich hatte mit Mühe durch Zweite und Dritte über die Schweiz eine Bestätigung bekommen, daß ich in einem Lager in Deutschland gewesen sei, und eine andere, daß Georg nach Helen und mir suche, um uns zurückzubringen. Mir wurde gesagt, in einer Woche wiederzukommen. Draußen schüttelte mir der junge Amerikaner die Hand. ›Nett, daß wir uns getroffen haben. Hier -‹ er kramte eine Visitenkarte hervor, ›rufen Sie mich an, wenn Sie drüben sind.‹
Er winkte mir zu und wollte weggehen. ›Und wenn etwas passiert? Wenn ich Sie noch brauche?‹ fragte ich.
›Was soll noch passieren? Alles ist in Ordnung.‹ Er lachte. ›Mein Vater ist ziemlich bekannt. Ich habe gehört, daß morgen ein Boot nach Oran geht; das möchte ich nehmen, bevor ich zurückfahre. Wer weiß, wann ich wieder herkomme. Besser, noch anzusehen, was man kann.‹
Er verschwand. Ein halbes Dutzend Emigranten umringte mich und wollte seinen Namen und seine Adresse wissen; sie ahnten, was geschehen war, und wollten dasselbe für sich. Als ich ihnen sagte, ich wüßte nicht, wo er in Marseille wohne, beschimpften sie mich. Ich wußte es tatsächlich nicht. Ich zeigte ihnen die Karte mit der amerikanischen Adresse. Sie schrieben sie auf. Ich sagte ihnen, es sei nutzlos, der Mann wolle nach Oran. Sie erklärten, dann würden sie am Dampfer auf ihn warten. Ich kam in zwiespältiger Stimmung nach Hause. Vielleicht hatte ich alles verdorben, weil ich die Karte gezeigt hatte; aber ich war im Augenblick entschlußlos gewesen, und je weiter ich ging, um so aussichtsloser erschien mir ohnehin alles.
Ich sagte es Helen. Sie lächelte. Sie war sehr sanft an diesem Abend. In dem kleinen Zimmer, das wir besaßen und das wir von einem Untermieter untergemietet hatten – Sie kennen ja die Adressen, die von Mund zu Mund weitergegeben werden -, sang ein unermüdlicher, grüner Kanarienvogel, für dessen Pflege wir uns verpflichtet hatten. Eine fremde Katze kam wieder und wieder von den umliegenden Dächern und hockte im Fenster, die gelben Augen starr auf den Vogel gerichtet, der in seinem Drahtbauer von der Decke hing. Es war kalt, aber Helen wollte die Fenster offen haben. Ich wußte, daß sie Schmerzen hatte; es war eines der Zeichen.
Das Haus wurde erst spät ruhig. ›Erinnerst du dich noch an das kleine Schloß?‹ fragte Helen.
›Ich erinnere mich daran, als ob jemand es mir erzählt hätte‹, erwiderte ich. ›Als ob nicht ich, sondern ein anderer dagewesen sei.‹
Sie sah mich an. ›Vielleicht stimmt das. Jeder hat mehrere Personen in sich‹, sagte sie dann. ›Ganz verschiedene. Und manchmal werden sie selbständig und regieren eine Zeitlang, und man ist ein anderer Mensch, einer, den man vorher nie gekannt hat. Aber man kommt zurück! Kommt man nicht?‹ fragte sie drängend.
›Ich hatte nie mehrere Personen in mir‹, erklärte ich. ›Ich bin immer monoton derselbe.‹
Sie schüttelte heftig den Kopf. ›Wie du dich irrst! Du wirst erst später merken, wie du dich irrst.‹
›Wie meinst du das?‹
›Vergiß es. Sieh die Katze im Fenster! Und den ahnungslos singenden Vogel! Wie das Opfer jubiliert!‹
›Sie wird ihn nie bekommen. Er ist sicher in seinem Käfig.‹
Helen brach in Lachen aus. ›Sicher in seinem Käfig‹, wiederholte sie. ›Wer will in einem Käfig sicher sein?‹
Gegen Morgen wachten wir auf Die Concierge schimpfte und schrie. Ich öffnete die Tür, angezogen und fertig zur Flucht, aber ich sah keine Polizei. ›Das Blut!‹ schrie die Frau. ›Konnte sie das nicht anderswo machen? Die Schweinerei! Und jetzt kommt die Polizei! Das kommt davon, wenn man menschenfreundlich ist! Man wird ausgenutzt! Und die Miete ist sie schuldig seit fünf Wochen!‹
Auf dem engen Korridor drängten sich im grauen Licht die Bewohner der andern Zimmer und starrten in den Raum nebenan. Eine Frau von ungefähr sechzig Jahren hatte dort Selbstmord begangen. Sie hatte sich die linke Pulsader aufgeschnitten. Das Blut war am Bett heruntergelaufen. ›Holt den Doktor‹, sagte Lachmann, ein Emigrant aus Frankfurt, der in Marseille mit Rosenkränzen und Heiligenbildern handelte.