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»Gott zu suchen?«fragte ich mit halbem Spott.

Schwarz schüttelte den Kopf»Gott zu finden. Man sucht ihn immer. Aber man sucht ihn so, als ob man schwimmen möchte und dazu mit vielen Kleidern, Rüstung und Gepäck ins Wasser springt. Man muß nackt sein. So nackt wie in der Nacht, als ich die sichere Fremde verließ, um in die gefährliche Heimat zurückzukehren, und den Rhein überquerte wie einen Strom des Schicksals, ein schmales, vom Mond beschienenes bißchen Leben.

Ich dachte manchmal im Lager an diese Nacht. Es schwächte mich nicht, daran zu denken – es stärkte mich. Ich hatte getan, was mein Leben gefordert hatte, ich war nicht gescheitert, ich hatte ein zweites, vom Himmel gefallenes Leben mit Helen gehabt – und was an Verzweiflung gekommen war und noch manchmal durch meinen Schlaf geisterte, war nur deshalb da, weil das andere dagewesen war: Paris, Helen und das unfaßbare Gefühl, nicht allein zu sein. Irgendwo lebte Helen, vielleicht lebte sie mit einem anderen Mann, aber sie lebte. Wie entsetzlich viel das sein kann, in einer Zeit wie der unseren, wo ein Mensch weniger ist als eine Ameise unter einem Stiefel!«

Schwarz schwieg.»Fanden Sie Gott?«fragte ich. Es war eine rohe Frage, aber sie war mir plötzlich so wichtig, daß ich sie trotzdem stellte.

»Ein Gesicht im Spiegel«, erwiderte Schwarz.

»Wessen Gesicht?«

»Es ist immer dasselbe. Kennen Sie denn Ihr eigenes? Das von Ihrer Geburt?«

Ich sah ihn betroffen an. Er hatte denselben Ausdruck vorher schon einmal gebraucht.»Ein Gesicht im Spiegel«, wiederholte er.»Und das Gesicht, das Ihnen über die Schulter schaut und dahinter wieder das andere – aber dann auf einmal sind Sie der Spiegel mit seinen endlosen Wiederholungen. Nein, ich habe ihn nicht gefunden. Was sollten wir auch mit ihm anfangen, wenn wir ihn gefunden hätten? Wir müßten keine Menschen mehr sein, um es zu können. Suchen – das ist etwas anderes.«

Er lächelte.»Ich hatte aber dann nicht einmal Zeit und Kraft mehr übrig dafür. Ich war zu weit unten. Ich dachte nur noch an das, was ich liebte. Ich lebte davon. Nicht mehr an Gott. Nicht mehr an Gerechtigkeit. Ein Kreis hatte sich geschlossen. Es war die Situation am Flusse. Sie wiederholte sich. Und wieder kam es nur auf mich an. Man kann selbst fast nichts tun, wenn dieser Zustand eintritt. Es ist auch nicht nötig; Überlegung würde nur verwirren. Die Dinge tun sich von sich selbst. Man ist aus der lächerlichen Isoliertheit des Menschen heimgekehrt in das anonyme Gesetz des Geschehens, und alles, was man zu tun hat, ist, bereit zu sein, zu gehen, wenn die unsichtbare Hand einem sanft die Schulter anstößt. Man braucht nur zu folgen; solange man nicht fragt, ist man geschützt. Sie denken wahrscheinlich, ich rede mystischen Unsinn.«

Ich schüttelte den Kopf.»Ich kenne es auch. Es gibt das ebenso in Augenblicken großer Gefahr. Ich habe Leute gekannt, die es im Krieg erlebt haben. Sie verließen plötzlich, ohne Grund, aber auch ohne Zögern einen Unterstand, der eine Minute später zum Massengrab wurde. Sie wußten nicht warum; der Unterstand war nach den Regeln der Vernunft hundertmal sicherer als das ungeschützte Grabenstück, das sie betraten.«

»Ich tat das Unmögliche«, sagte Schwarz.»Es schien, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Ich packte meine paar Sachen ein und ging eines Morgens aus dem Lager auf die Landstraße. Ich versuchte nicht das Übliche: nachts zu entweichen. Ich ging im vollen Licht des klaren Morgens auf das große Eingangstor zu, erklärte der Wache, ich sei entlassen, griff in die Tasche, gab den beiden Wächtern etwas Geld und sagte ihnen, dafür eins auf mein Wohl zu trinken. Es schien so ausgeschlossen, daß jemand so frech sein könne, ohne Erlaubnis öffentlich das Lager zu verlassen, daß die beiden Bauernjungen in Uniform in der Überraschung nicht daran dachten, nach meinem Entlassungsschein zu fragen.

Ich ging langsam die weiße Straße entlang. Ich lief nicht, obschon nach zwanzig Schritten das Lagertor sich hinter mir in das Gebiß eines Drachens zu verwandeln schien, der mir nachschlich und nach mir schnappte. Ruhig steckte ich den Paß des toten Schwarz ein, den ich flüchtig vor den Augen der Wache hin und her gewedelt hatte, und ging weiter. Es roch nach Rosmarin und Thymian. Es war der Geruch der Freiheit.

Nach einer Weile tat ich, als hätte ich an einem Schuh etwas zu binden. Ich beugte mich nieder und blickte dabei zurück. Die Straße war leer. Ich ging rascher.

Ich besaß keines der zahlreichen Papiere, die um diese Zeit verlangt wurden. Ich sprach einigermaßen französisch und verließ mich darauf, vielleicht für einen Franzosen mit Dialekt gehalten zu werden. Das ganze Land war ja damals immer noch auf der Wanderschaft. Die Orte waren voll mit Flüchtlingen aus den okkupierten Gebieten, und auf den Straßen wimmelte es von Fahrzeugen aller Art, von Karren mit Betten und Hausrat und von flüchtigen Soldaten Ich kam zu einem kleinen Wirtshaus, das einen Garten mit ein paar Tischen hatte und dahinter einen Nutzgarten mit Gemüse und Obstbäumen. Die Wirtsstube war mit Fliesen belegt und roch nach verschüttetem Wein, frischem Brot und Kaffee.

Ein Mädchen mit bloßen Füßen bediente mich. Sie breitete ein Tischtuch aus und stellte Kanne, Tasse, Teller, Honig und Brot auf. Es war ein Luxus ohnegleichen; ich hatte das seit Paris nicht mehr gesehen. Draußen, hinter der staubigen Hecke, schob sich die zerbrochene Welt vorbei – hier, im Sonnenschatten der Bäume, hielt sich ein zitternder Fleck Friede, mit Bienengesumm und dem goldenen Licht des späten Sommers. Mir war, als könnte ich ihn auf Vorrat trinken, wie ein Kamel Wasser für die Reise durch die Wüste. Ich schloß die Augen und fühlte das Licht und trank.«

13

»Am Bahnhof stand ein Gendarm. Ich kehrte um. Obschon ich nicht glaubte, daß mein Verschwinden schon bekanntgeworden sei, beschloß ich, lieber die Bahn fürs erste zu meiden. So wenig es auch immer auf uns ankommt, solange wir im Lager sind, so wertvoll werden wir plötzlich, wenn wir entkommen. Während ein Stück Brot zu schade für uns ist, solange wir da sind, ist nichts zu teuer, um uns wieder einzufangen, und ganze Kompanien werden dazu mobilgemacht. Ich fand einen Lastwagen, der mich ein Stück mitnahm. Der Fahrer schimpfte auf den Krieg, die Deutschen, die französische Regierung, die amerikanische Regierung und Gott; aber er teilte mit mir sein Mittagessen, bevor er mich absetzte. Ich ging eine Stunde auf der Landstraße weiter, bis ich zur nächsten Bahnstation kam. Da ich gelernt hatte, daß man sich nicht verstecken soll, wenn man nicht verdächtig werden will, verlangte ich eine Fahrkarte erster Klasse zum nächsten Ort. Der Beamte zögerte. Ich erwartete, daß er nach Papieren fragen wolle, und kam ihm zuvor, indem ich ihn anschnauzte. Er wurde verblüfft und unsicher und gab mir die Karte. Ich ging in ein Café und wartete dort bis zur Abfahrt des Zuges, der mit einer Stunde Verspätung tatsächlich ankann.

Es gelang mir, in drei Tagen zu Helens Lager zu kommen. Einen Gendarmen, der mich stellte, schrie ich auf deutsch an, während ich ihm den Paß von Schwarz unter die Nase hielt. Er fuhr erschreckt zurück und war froh, daß ich ihn in Ruhe ließ. Österreich gehörte zu Deutschland, und ein österreichischer Paß wirkte bereits wie eine Visitenkarte der Gestapo. Es war sonderbar, zu was allem das Dokument des toten Schwarz fähig war. Zu vielem mehr als ein Mensch – dieses bedruckte Stück Papier!

Man mußte einen Berg hinaufgehen, zwischen Ginster, Heide, Rosmarin und Wald hindurch, um zu Helens Lager zu gelangen. Ich kam nachmittags an. Das Lager war mit Draht eingezäunt, aber es wirkte nicht so trübsinnig wie Le Vernet, wahrscheinlich weil es ein Frauenlager war. Die Frauen hatten sich fast alle bunte Kopftücher und eine Art von Turbanen gemacht, und sie trugen farbige Kleider; das wirkte fast sorglos. Ich konnte es vom Walde her sehen.