Eine Gruppe von Leuten kam an uns vorbei. Jemand lachte, und einige sahen sich nach uns um. ›Komm‹, flüsterte Helen. ›Wir können nicht hierbleiben.‹
›Wohin sollen wir gehen?‹
›In deine Wohnung.‹
Ich glaubte nicht recht gehört zu haben. ›Wohin?‹ fragte ich noch einmal.
›In deine Wohnung. Wohin sonst?‹
›Man kann mich auf der Treppe erkennen! Wohnen nicht dieselben Leute wie früher noch in dem Haus?‹
›Man wird dich nicht sehen.‹
›Und das Mädchen?‹
›Ich werde es für den Abend wegschicken.‹
›Und morgen früh?‹
Helen sah mich an. ›Bist du von so weit gekommen, um mich alles das zu fragen?‹
›Ich bin nicht gekommen, um gefaßt zu werden und dich in ein Lager zu bringen, Helen.‹
Sie lächelte plötzlich. ›Josef‹, sagte sie. ›Du hast dich nicht verändert. Wie bist du nur hergekommen?‹
›Das weiß ich auch nicht‹, erwiderte ich und mußte selbst lächeln. Die Erinnerung daran, daß sie das früher manchmal, halb zornig, halb verzweifelt über meine Umständlichkeit, gesagt hatte, wischte die Gefahr auf einmal weg. ›Aber ich bin da‹, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf, und ich sah, daß ihre Augen voll Tränen waren. ›Noch nicht‹, erwiderte sie. ›Noch nicht! Und nun komm, oder man wird uns tatsächlich verhaften, weil es aussieht, als mache ich dir eine Szene.‹
Wir gingen über den Platz. ›Ich kann doch nicht sofort mit dir kommen‹, sagte ich. ›Du mußt dein Mädchen doch vorher wegschicken! Ich habe ein Zimmer in einem Hotel in Münster genommen. Man kennt mich da nicht. Ich wollte dort wohnen.‹
Sie blieb stehen. ›Wie lange?‹
›Das weiß ich nicht‹, erwiderte ich. ›Ich habe nie weiter denken können, als daß ich dich sehen wollte und daß ich danach irgendwie zurück müßte.‹
›Über die Grenze?‹
›Wohin sonst, Helen?‹
Sie senkte den Kopf und ging weiter. Ich dachte daran, daß ich nun sehr glücklich sein sollte, aber ich fühlte es nicht so. Wirklich fühlt man es wohl immer erst später. Jetzt – jetzt weiß ich, daß ich es war.
›Ich muß Martens telefonieren‹, sagte ich.
›Du kannst das von deiner Wohnung aus tun‹, erwiderte Helen. Es traf mich jedesmal, wenn sie ›deine Wohnung‹ sagte. Sie tat es absichtlich. Ich wußte nicht, weshalb.
›Ich habe Martens versprochen, ihn in einer Stunde anzurufen‹, sagte ich. ›Das ist jetzt. Wenn ich es nicht tue, glaubt er, es sei etwas passiert. Vielleicht tut er dann etwas Unvorsichtiges.‹
›Er weiß, daß ich dich abhole.‹
Ich blickte auf die Uhr. Es war schon eine Viertelstunde später, als ich anrufen wollte. ›Ich kann es von der nächsten Kneipe aus tun‹, sagte ich. ›Es dauert nur eine Minute.‹
›Mein Gott, Josef!‹ sagte Helen zornig. ›Du hast dich wirklich nicht geändert. Du bist noch pedantischer geworden.‹
›Dies ist keine Pedanterie. Es ist Erfahrung. Ich habe zu oft gesehen, wieviel Unheil passieren kann, wenn man Kleinigkeiten vernachlässigt. Und ich weiß zu genau, was Warten heißt, unter Gefahr.‹ Ich nahm ihren Arm. ›Ohne Pedanterie dieser Art wäre ich nicht mehr am Leben, Helen.‹ – Sie drückte heftig meinen Arm. ›Ich weiß‹, murmelte sie. ›Siehst du denn nicht, daß ich furchte, es würde etwas passieren, wenn ich dich jetzt nur noch eine Minute allein lasse?‹
Ich spürte alle Wärme der Welt. ›Nichts wird passieren, Helen. Auch daran kann man glauben. Mit aller Pedanterie.‹ Sie lächelte und hob ihr blasses Gesicht. ›Geh und telefoniere! Aber nicht in einer Kneipe. Drüben ist ein Telefonstand. Man hat ihn hingebaut, während du fort warst. Er ist sicherer als eine Kneipe.‹
Ich ging in die Glaskabine. Helen blieb draußen. Ich rief Martens an. Die Nummer war besetzt. Ich wartete einige Zeit und rief wieder an. Das Nickelstück fiel scheppernd zurück; die Nummer war immer noch besetzt. Ich wurde unruhig. Durch das Glas sah ich Helen draußen aufmerksam hin und her gehen. Ich machte ihr ein Zeichen, aber sie sah mich nicht. Sie beobachtete die Straße, den Hals gereckt, spähend, ohne es zu sehr zeigen zu wollen. Wärter und Schutzengel zugleich, in einem sehr gutsitzenden Kostüm, wie ich jetzt bemerkte. Ich sah auch, während ich wartete, daß ihr Mund mit Lippenstift nachgezogen war. Im gelben Licht wirkte er fast schwarz. Mir fiel ein, daß Schminke und Lippenstift im neuen Deutschland unerwünscht waren.
Beim dritten Anruferreichte ich Martens. ›Meine Frau hat telefoniert.‹ sagte er. ›Fast eine halbe Stunde. Ich konnte sie nicht unterbrechen. Über Kleider, Krieg und Kinder.‹
›Wo ist sie jetzt?‹
›In der Küche. Ich mußte sie reden lassen. Du ver stehst?‹
›Ja. Alles in Ordnung. Ich danke dir, Rudolf Vergiß alles.‹
›Wo bist du?‹
›Auf der Straße. Ich danke dir, Rudolf Ich brauche weiter nichts mehr. Ich habe alles gefunden. Wir sind zusammen.‹
Ich sah durch die Scheibe auf Helen und wollte den Hörer niederlegen. ›Weißt du, wo du unterkommen wirst?‹ fragte Martens.
›Ich glaube ja. Sorge dich nicht. Vergiß den Abend, als hättest du geträumt.‹
›Wenn ich noch etwas tun kann‹, sagte er zögernd, ›laß es mich wissen. Ich war zuerst zu überrascht. Du verstehst -‹
›Ja, Rudolf, ich verstehe. Und wenn ich etwas brauche, werde ich es dich wissen lassen.‹
›Wenn du hier übernachten willst – wir könnten dann noch miteinander reden -‹
Ich lächelte. ›Wir werden sehen. Ich muß jetzt aufhören -‹
›Ja, natürlich.‹ sagte er eilig. ›Verzeih. Alles Glück, Josef Wirklich!‹
›Danke, Rudolf.‹
Ich trat aus der stickigen Kabine. Ein Windstoß faßte mich und riß mir fast den Hut vom Kopf. Helen kam rasch heran. ›Komm nach Hause! Du hast mich mit deiner Vorsicht angesteckt. Es ist plötzlich, als ob hier hundert Augen aus der Dunkelheit starrten.‹
›Hast du noch dasselbe Mädchen?‹
›Lena? Nein, sie spionierte für meinen Bruder. Er wollte wissen, ob du mir schriebest. Oder ich dir.‹
›Und das jetzige?‹
›Sie ist dumm und gleichgültig. Ich kann sie wegschicken, sie wird sich freuen und nicht nachdenken.‹
›Du hast sie noch nicht weggeschickt?‹
Sie lächelte und war plötzlich sehr schön. ›Ich mußte doch erst sehen, ob du wirklich hier wärest.‹
›Du mußt sie wegschicken, ehe ich komme‹, sagte ich. ›Sie darf uns nicht sehen. Können wir nicht anderswohin gehen?‹
›Wohin?‹
Ja, wohin? – Helen lachte plötzlich. ›Da stehen wir wie Halbwüchsige, die sich heimlich treffen müssen, weil ihre Eltern sie noch für zu jung halten! Wohin können wir gehen? In den Schloßpark? Er wird um acht Uhr geschlossen. Auf eine Bank in den städtischen Anlagen? In eine Konditorei? Schon zu gefährlich!‹
Sie hatte recht. Es waren die kleinen Tatsachen, die ich nicht vorausgesehen hatte – man sieht sie nie voraus. ›Ja‹, sagte ich. ›Wir stehen da wie Halbwüchsige. Als wären wir in unsere Jugend zurückgeworfen.‹
Ich blickte sie an. Sie war neunundzwanzig Jahre alt; aber sie wirkte so, wie ich sie früher gekannt hatte. Die fünf Jahre dazwischen schienen abgeglitten zu sein wie Wasser von einem jungen Seehund. ›Ich bin auch gekommen wie ein Halbwüchsiger‹, sagte ich. ›Alle Überlegungen waren dagegen, aber wie ein Halbwüchsiger habe ich nicht weitergedacht. Ich wußte nicht einmal, ob du längst mit jemand anderem lebtest.‹
Sie antwortete nicht. Ihr braunes Haar glänzte im Licht der Laterne. ›Ich werde vorausgehen und das Mädchen wegschicken‹, sagte sie. ›Aber ich hasse es, dich allein auf der Straße zu lassen. Du könntest wieder verschwinden – so wie du aufgetaucht bist. Wo willst du solange bleiben?‹
›Da, wo du mich gefunden hast. In einer Kirche. Ich kann zum Dom zurückgehen. Kirchen sind sicher, Helen. Ich bin ein großer Kenner französischer, Schweizer und italienischer Kirchen und Museen geworden.‹
›Komm in einer halben Stunde‹, flüsterte sie. ›Erinnerst du dich noch an die Fenster unserer Wohnung?‹
›Ja‹, sagte ich.
›Wenn das Eckfenster offen ist, ist alles in Ordnung und du kannst heraufkommen. Wenn es geschlossen ist, warte, bis ich es öffne.‹