Mehrere Kapitäne wechselten schnelle Blicke. Jeder kannte die Geschichte: als Rodney versuchte, den französischen Amiral de Guichen vor Martinique zu stellen, gelang das nicht, weil einige seiner Kapitäne seine signalisierten Befehle nicht verstanden oder befolgt hatten und jeder wußte auch, wie scharf er darauf reagiert hatte. Mehr als ein Kapitän lebte nun, auf Halbsold gesetzt, mit Schande bedeckt und von bösen Erinnerungen geplagt, kümmerlich in England.
«Achten Sie auf meine Signale«, fuhr er in ruhigerem Ton fort.»Wo und auf welchem Schiff auch meine Flagge weht, achten Sie auf meine Signale!«Er lehnte sich zurück und blickte zu den Decksbalken hoch.»Diesmal gibt es keine zweite Chance. Entweder gewinnen wir einen großen Sieg, oder wir verlieren alles.»
Er nickte Hood zu, der wieder das Wort nahm:»Die Befehle werden den dienstältesten Offizieren des Geschwaders unverzüglich übermittelt. Von dem Augenblick an, da Sie die Kajüte verlassen, hat die Flotte klar zum Auslaufen zu sein. Unsere patrouillierenden Fregatten und Korvetten haben die Aufgabe, wie Hunde vor den Schlupflöchern der Feinde zu lauern. «Er hieb mit der Faust auf den Tisch.»Stöbern Sie die Spur des Feindes auf, benachrichtigen Sie den Oberbefehlshaber, und die Jagd geht los!»
Beifallsgemurmel beschloß die Zusammenkunft. Leutnant Dancer sagte ungerührt:»Ob unser Geschwader dabei sein wird? Ich würde den Schlußakt gern miterleben.»
Bolitho nickte und lächelte insgeheim, weil er sich vorstellte, wie die winzige Witch of Looe de Grasses Dreidecker angriff. Laut sagte er:»Es sind immer zuwenig Fregatten. In jedem Krieg die gleiche Geschichte. Zu wenig und zu spät. «Doch es klang keine Bitterkeit mit. Die Phalarope wurde jetzt noch dringlicher als sonst benötigt. Bei den weiten Seegebieten gab es für jede Fregatte nur allzuviel zu tun. Er fuhr aus seinen Gedanken hoch, als ein Leutnant des Flaggschiffs auf ihn zutrat.
«Sir George Rodney möchte Sie sprechen.»
Bolitho rückte den Degen zurecht und schritt über den dicken Teppich. Am Tisch machte er halt und nahm das Scharren der hinausgehenden Schritte nur noch halb wahr. Dann schloß sich die Tür, und das Trillern der Pfeifen zeigte an, daß die Kapitäne das Flaggschiff verließen. Eine Sekunde lang fürchtete er, den Leutnant falsch verstanden zu haben.
Rodney saß noch immer in seinem Sessel. Mit halbgeschlossenen Augen starrte er zur Decke. Hood und Sir Robert Napier studierten, über einen in der Nähe stehenden Tisch gebeugt, eine Karte. Selbst die Ordonnanzen schienen zu beschäftigt zu sein, um den jungen Kapitän zu beachten.
Doch dann richtete Rodney die Augen auf den Wartenden.»Ich kenne Ihren Vater, Bolitho. Wir sind zusammen gefahren. Ein sehr tapferer Offizier und ein guter Freund. «Seine Augen wanderten langsam über Bolithos gebräuntes Gesicht und seine Gestalt.»Sie ähneln ihm, innerlich und äußerlich. «Er nickte.»Ich bin sehr froh, Sie zu meinen Offizieren zu zählen.»
Bolitho dachte an seinen Vater, der allein in dem großen Haus lebte und die Schiffe in der Bucht beobachtete.»Danke, Sir. Mein Vater bat mich, Ihnen Grüße auszurichten.»
Rodney schien nicht gehört zu haben.»Es gibt so viel zu tun. So wenige Schiffe für die vielen Aufgaben. «Er seufzte:»Es tut mir leid, daß Sie Ihrem einzigen Bruder auf solche Weise begegnen mußten. «Seine Augen ruhten fest auf Bolitho.
Bolitho merkte, wie Sir Robert, noch immer über die Karte gebeugt, wachsam zuhörte, und sagte:»Er glaubt, es sei recht und richtig, was er tut, Sir.»
Die Augen lagen noch immer auf Bolithos Gesicht.»Und was glauben Sie?»
«Er ist mein Bruder, Sir. Aber sollten wir nochmals konfrontiert werden, werde ich zu meinem Eid stehen. «Er zögerte.»Und Ihr Vertrauen nicht enttäuschen, Sir.»
Rodney nickte.»Daran habe ich nie gezweifelt, mein Junge.»
Sir Samuel Hood hustete höflich, und Rodney sagte:»Kehren Sie auf Ihr Schiff zurück, Bolitho. Ich hoffe, daß Ihrem Vater und Ihnen weiterer Schmerz erspart bleibt. «Seine Augen blickten kalt, als er hinzusetzte:»Es ist leicht, seine Pflicht zu erfüllen, wenn es keine andere Wahl gibt. Sie hatten es nicht leicht. Und es wird nicht leicht für Sie sein, wenn Ihr Bruder gefangen-genommen wird.»
Er versank in Schweigen. Der Leutnant sagte ungeduldig:»Ihr Hut, Sir. Ich habe Ihr Boot längsseits pfeifen lassen.»
Bolitho folgte dem Offizier an Deck. Seine Gedanken waren noch immer bei dem, was der Admiral gesagt hatte. Die ganze
Flotte wußte also über seinen Bruder Bescheid. In der begrenzten, mönchischen Welt der Schiffe, die ständig auf See waren, sprach man also über ihn, maß ihn an zurückliegenden Taten und würde ihn an künftigen Ereignissen messen.
Er eilte die Gangway zum wartenden Boot hinunter und starrte zu der vor Anker liegenden Phalarope hinüber. Einst hatte sie sich bewähren müssen. Jetzt war ihr Kapitän an der Reihe.
Am Abend des Tages, an dem Bolitho an der Besprechung auf der Formidable teilgenommen hatte, lichtete die Phalarope ohne jedes Aufheben den Anker und ging in See.
Am folgenden Morgen stand sie knapp fünfzig Meilen weiter südwestlich, und unter Vollzeug nutzten sie die schwache Brise, die bei der kräftiger werdenden Sonne nur wenig Abkühlung brachte. Diesmal war die Phalarope nicht völlig allein. Selbst von Deck aus sah man die Cassius, deren hohe Leinwandpyramide im Frühlicht golden schimmerte. Gewichtig und langsam segelte sie auf Parallelkurs. Irgendwo jenseits von ihr, verborgen unter dem Horizont, lief die Fregatte Volcano. Unsichtbar und der sich langsam bewegenden Formation ein Stück voraus, erfreute sich Leutnant Dancers winzige Witch of Looe einer gewissen Bewegungsfreiheit.
Leutnant Herrick hatte eben die Frühwache übernommen. Er stand lässig an der Achterdecksreling und beobachtete die Leute bei der Arbeit auf dem Hauptdeck. Die nassen Decksplanken waren mit Schrubbern und Scheuersteinen bearbeitet worden, und jetzt, als die Hitze über dem sanft schaukelnden Schiffsrumpf langsam stieg, leuchteten die Decks in strahlendem Weiß. Die Männer spleißten und waren mit laufenden Ausbesserungen beschäftigt: eine friedliche Szene. Durch Wärme und gutes Frühstück fühlte sich Herrick schläfrig und zufrieden. Gelegentlich warf er einen Blick zu Fähnrich Neale hinüber, um sich zu vergewissern, daß er das Glas auf das ferne Flaggschiff gerichtet hatte. Die Phalarope hielt so gut Position, wie der Wind es zuließ.
Er bemerkte, daß Leutnant Okes mit Brock die Zwölfpfünder der Steuerbordbatterie inspizierte, und fragte sich nicht zum ersten Mal, was hinter Okes' verkrampften Zügen vorging. Seit dem Angriff auf die Insel Mola war Okes ein anderer. Und seit der beiläufigen Bemerkung des Admirals bei dem abendlichen
Essen hatte er sich noch mehr in sich selbst zurückgezogen.
Auch hinter Farquhars Gedanken konnte er nicht kommen. Herrick war nicht sicher, ob er die Zurückhaltung des Fähnrichs verabscheute oder bewunderte. Merkwürdig, wie Farquhars Haltung stets Minderwertigkeitskomplexe in ihm weckte, vielleicht wegen seiner eigenen einfachen Herkunft. Selbst hier auf der kleinen Fregatte, wo sie dicht aufeinanderhockten, hielt Farquhar Distanz. Herrick versuchte sich vorzustellen, was er empfunden hätte, wenn Okes, wie Rennie angedeutet hatte, ohne an die anderen zu denken den Rückzug befohlen, ihn zurückgelassen und dem Tode preisgegeben hätte. Er malte sich aus, daß er genau wie Farquhar reagieren würde, wußte jedoch, daß er sich selber etwas vormachte. Wahrscheinlich wäre es zu einem offenen Konflikt und zu einer Verhandlung vor dem Kriegsgericht gekommen.
Der Rudergänger hüstelte warnend, und Herrick drehte sich schnell um, als Bolitho den Niedergang heraufkam. Er führte die Hand an den Hut und wartete, während Bolitho erst an den Kompaß trat und dann zum Wimpel am Masttopp hinaufschaute. Er entspannte sich, als Bolitho neben ihn trat und auf die arbeitenden Seeleute hinabblickte.