Prilicla hatte die Führung übernommen, um das Risiko zu vermeiden, daß Conway auf ihn fiel. Mit seinen sechs Beinen, die aus seiner kugelförmigen Druckhülle herausragten — Priliclas knöcherne Extremitäten wurden vom Vakuum nicht in Mitleidenschaft gezogen — sah er wie eine fette Metallspinne aus, die sich ihren Weg durch ein riesiges fremdartiges Netz bahnte. Nur einmal rutschte er mit seinen Magnetsohlen ab, und er fiel Conway entgegen. Automatisch streckte Conway eine Hand nach ihm aus, um den langsamen Fall Priliclas zu bremsen, als dieser an ihm vorbeiflog, zog sie dann jedoch schnell wieder zurück. Hätte er nach einem dieser feingliedrigen Beine gegriffen, wäre es wahrscheinlich abgerissen worden.

Aber Prilicla gelang es, den Fall mit den Antriebsdüsen seines Anzugs selbst abzubremsen, und sie konnten die lange und langsame Kletterpartie fortsetzen.

Kurz bevor die Verständigung mit dem Ambulanzschiff abriß, sagte Fletcher, daß sie bereits seit vier Stunden unterwegs seien und fragte, ob sich Conway sicher sei, dem vermißten Sutherland zu folgen und nicht nur dem vom Bergungstrupp der Tenelphi markierten Weg. Conway blickte auf den Leuchtfarbenklecks direkt über ihm und auf den Schmiermittelfleck daneben, und antwortete, er sei sich sicher.

Irgend etwas übersehe ich, sagte er sich selbst verärgert, irgend etwas, das direkt vor meiner dämlichen Nase liegt…!

Während sie tiefer in das Schiff eindrangen, wurde das Gewirr von Trümmerteilen allmählich durchlässiger. Doch wurde die durch die Rotation des Schiffs verursachte Gravitation zusehends schwächer, so daß immer größere Teile der Verkleidung, zertrümmertes Mobiliar und lose Ausrüstungsgegenstände schwerfällig nachgaben, wegrutschten oder absackten, sobald sie danach zu greifen versuchten. Im Lichtkegel der Anzugscheinwerfer traten auch noch andere Dinge zutage: zermalmte, zerfetzte und kaum zu identifizierende Gebilde aus ausgetrockneten, organischen Substanzen — Überreste der Besatzung oder der Haustiere, die vor vielen Jahrhunderten von der Katastrophe überrascht worden waren.

Doch diese organischen Substanzen von den Metalltrümmern zu trennen, wäre einerseits höchst gefährlich und andererseits nichts als bloße Zeitverschwendung gewesen. Die Suche nach Sutherland war sehr viel wichtiger, als ihre Neugier zu befriedigen, welcher physiologischen Klassifikation die Spezies angehörte, die dieses Schiff einst erbaut hatte.

Inzwischen waren sie bereits seit fast sieben Stunden unterwegs und durchquerten mittlerweile Ebenen, die nicht mehr mit Trümmerteilen verstopft waren, obwohl auch ihre Konstruktion geborsten und verzogen war. Das war eine glückliche Fügung, denn Prilicla stieß hin und wieder aus purer Erschöpfung gegen Wände und Luken, und jeder zweite oder dritte Atemzug Conways ähnelte bereits eher einem Gähnen.

Er ordnete eine Pause an und fragte den Empathen, ob er irgendeine emotionale Ausstrahlung außer seiner empfangen könnte. Prilicla verneinte und war sogar zu müde, um einen entschuldigenden Unterton in seine Stimme zu legen. Als Conway kurz darauf das periodische Zischen in seinem Anzugkopfhörer vernahm, bestätigte er, indem er den Sendeschalter dreimal hintereinander schnell ein- und ausschaltete, eine Pause machte, und dann das Signal in kurzen Abständen mehrere Minuten lang wiederholte.

Er hoffte, dem Captain durch das mehrmalige ›S‹-Signal verständlich gemacht zu haben, daß er und Prilicla sich nun schlafen legen wollten.

Den nächsten Abschnitt ihres Wegs bewältigten sie in viel kürzerer Zeit, weil sie zum Mittelpunkt des Schiffs einfach über völlig unbeschädigte Decks gehen und auf breiten Rampen oder schmaleren Treppen emporsteigen konnten. Nur einmal kamen sie langsamer voran, als sie eine aus Wrackteilen bestehende Barriere überwinden mußten, die anscheinend durch einen großen und langsamen Meteoriten verursacht worden war, der sich tief ins Schiffsinnere hineingebohrt hatte. Ein paar Minuten später entdeckten sie die erste innere Luftschleuse.

Offensichtlich war diese Schleuse erst nach der Katastrophe von den Überlebenden gebaut worden, denn sie stellte nur wenig mehr als einen großen Metallwürfel dar, den man an die Einfassung einer luftdichten Tür geklebt hatte und der an der Außenluke einen sehr primitiven Verschlußmechanismus besaß. Beide Luken standen offen, und zwar schon seit langer Zeit, denn die Kammer dahinter war mit ausgetrockneten Pflanzen gefüllt, die praktisch zu Staub zerplatzten, sobald Conway und Prilicla sie streiften.

Conway bekam plötzlich eine Gänsehaut, als er sich dieses gewaltige Schiff vorstellte — schwer beschädigt durch zahlreiche Meteoriteneinschläge, aber nicht gänzlich zerstört; blindlings treibend, jedoch nicht ohne Restenergie; mit Gruppen von Überlebenden, die sich in kleinen Licht- und Wärmeoasen aufhielten, durch den ständig steigenden Druckabfall aber voneinander isoliert waren. Doch hatten sich diese Überlebenden etwas einfallen lassen. Sie bauten Luftschleusen, die es ihnen ermöglichten, von einer Insel zur anderen zu gelangen und in Fragen des Überlebens zusammenzuarbeiten, und sie konnten so eine Zeitlang weiterexistieren.

„Mein lieber Freund“, sagte Prilicla, „Ihre emotionale Ausstrahlung ist zur Zeit nur schwer zu analysieren.“

Conway lachte verlegen und entgegnete: „Ich sage mir immer und immer wieder, daß ich nicht an Gespenster glaube, aber anscheinend will ich mir einfach selbst nicht glauben.“

Sie umgingen den Hydrokulturraum, weil ihnen die Markierungen diesen Weg bezeichneten, und ungefähr zwei Stunden später betraten sie einen Korridor, der bis auf zwei große gezackte Löcher in Decke und Boden intakt war. Die sonst völlige Dunkelheit im Korridor war hier seltsam aufgehellt, und sie schalteten ihre Scheinwerfer aus.

Aus einer der Öffnungen drang ein schwaches Flimmern. Als sie an den Rand des Lochs traten, war es, als ob man in einen tiefen Brunnen blickte, dessen Grund ein winziger Lichtkreis war, der von der Sonne herrührte.

Innerhalb weniger Sekunden war das Sonnenlicht verschwunden und für ein paar weitere Sekunden waren die Wrackteile am anderen Ende des Tunnels beleuchtet, bis wieder völlige Dunkelheit herrschte.

„Jetzt kennen wir wenigstens eine Abkürzung für den Rückweg zur Außenhaut“, sagte Conway erleichtert. „Aber wären wir nicht zufällig genau zum richtigen Zeitpunkt hiergewesen, als die Sonne hereingeschienen hat…“

Er brach ab und dachte darüber nach, daß sie sehr großes Glück gehabt hatten, und vielleicht auch weiterhin haben würden, denn am Ende des Korridors, in dem der neu entdeckte Ausgang war, befand sich eine weitere Luftschleuse. Sie war mit Leuchtfarbe und einem sehr großen Schmiermittelfleck markiert. Darüber hinaus war die äußere Luke geschlossen, ein deutliches Zeichen, daß der dahinterliegende Raum Druck enthielt.

Prilicla zitterte vor eigener wie auch wegen Conways Aufregung am ganzen Körper, als dieser den simplen Öffnungsmechanismus zu betätigen begann. Conway mußte sein Vorhaben allerdings einen Moment lang unterbrechen und den Atem anhalten, weil das Funkgerät in seinem Anzug zischte und er bestätigen mußte. Als er das getan hatte, zischte es jedoch weiter.

„Der Captain ist kein besonders geduldiger Mensch“, sagte er gereizt.

„Wir sind gerade mal etwas mehr als achtunddreißig Stunden unterwegs, und er hat gesagt, er gibt uns zwei Tage…“ Er machte eine kurze Pause, hielt die Luft an und lauschte auf das schwache, unregelmäßige Zischen, das mittlerweile leiser als sein eigener Atem war, denn sie waren schon weit ins Schiffsinnere vorgedrungen. Es war schwierig zu sagen, wann ein solches Zischen anfing und wann es aufhörte, doch allmählich entdeckte er ein Schema in den Signalen. Drei kurze Knackgeräusche. Pause. Drei lange Knackgeräusche. Pause. Drei kurze Knackgeräusche, gefolgt von einer längeren Pause, nach der die ganze Zeichenfolge immer wieder von vorn begann. Es war ein Notsignal, ein SOS… „Mit der Rhabwar kann es doch gar keine Probleme geben“, sagte er.