432.

Forscher und Versucher. — Es giebt keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft! Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald böse, bald gut gegen sie sein und Gerechtigkeit, Leidenschaft und Kälte nach einander für sie haben. Dieser redet mit den Dingen als Polizist, jener als Beichtvater, ein Dritter als Wanderer und Neugieriger. Bald mit Sympathie, bald mit Vergewaltigung wird man ihnen Etwas abdringen; Einen führt Ehrfurcht vor ihren Geheimnissen vorwärts und zur Einsicht, Einen wiederum Indiscretion und Schelmerei in der Erklärung von Geheimnissen. Wir Forscher sind wie alle Eroberer, Entdecker, Schifffahrer, Abenteuerer von einer verwegenen Moralität und müssen es uns gefallen lassen, im Ganzen für böse zu gelten.

433.

Mit neuen Augen sehen. — Gesetzt, dass unter Schönheit in der Kunst immer die Nachbildung des Glücklichen zu verstehen ist — und so halte ich es für die Wahrheit — , je nachdem eine Zeit, ein Volk, ein grosses in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glücklichen vorstellt: was giebt dann der sogenannte Realismus der jetzigen Künstler über das Glück unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft seine Art von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu geniessen wissen. Folglich muss man wohl glauben, das jetzige uns eigene Glück liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung des Wirklichen, nicht also in der Realität, sondern im Wissen um die Realität? So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, dass die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen» Seligkeiten «an sich geworden sind!

434.

Fürsprache einlegen. — Für die grossen Landschaftsmaler sind die anspruchslosen Gegenden da, die merkwürdigen und seltenen Gegenden aber für die kleinen. Nämlich: die grossen Dinge der Natur und Menschheit müssen für alle die Kleinen, Mittelmässigen und Ehrgeizigen unter ihren Verehrern Fürsprache einlegen, — aber der Grosse legt Fürsprache für die schlichten Dinge ein.

435.

Nicht unvermerkt zu Grunde gehen. — Nicht Einmal, sondern fortwährend bröckelt es an unserer Tüchtigkeit und Grösse; die kleine Vegetation, welche zwischen Allem hineinwächst und sich überall anzuklammern versteht, diese ruinirt Das, was gross an uns ist, — die alltägliche, stündliche übersehene Erbärmlichkeit unserer Umgebung, die tausend Würzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmüthigen Empfindung, welche aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unserer Geselligkeit, unserer Tageseintheilung herauswächst. Lassen wir diess kleine Unkraut unbemerkt, so gehen wir an ihm unbemerkt zu Grunde! — Und wollt ihr durchaus zu Grunde gehen, so thut es lieber auf einmal und plötzlich: dann bleiben vielleicht von euch erhabene Trümmer übrig! Und nicht, wie jetzt zu befürchten steht, Maulwurfshügel! Und Gras und Unkraut auf ihnen, die kleinen Siegreichen, bescheiden wie vordem, und zu erbärmlich selbst zum Triumphiren!

436.

Casuistisch. — Es giebt eine bitterböse Alternative, der nicht Jedermanns Tapferkeit und Charakter gewachsen ist: als Passagier eines Schiffes zu entdecken, dass Capitän und Steuermann gefährliche Fehler machen und dass man ihnen in nautischem Wissen überlegen sei, — und nun sich zu fragen: Wie! wenn du gegen sie eine Meuterei erregtest und sie Beide gefangen nehmen liessest? Verpflichtet dich deine Überlegenheit nicht dazu? Und sind sie nicht wiederum im Rechte, dich einzusperren, weil du den Gehorsam untergräbst? — Diess ist ein Gleichniss für höhere und bösere Lagen: wobei zuletzt immer noch die Frage bleibt, was uns unsere Überlegenheit, unseren Glauben an uns selber in solchen Fällen gewährleistet. Der Erfolg? Aber da muss man eben schon das Ding thun, welches alle Gefahren in sich trägt, — und nicht nur Gefahren für uns, sondern für das Schiff.

437.

Vorrechte. — Wer sich selber wirklich besitzt, das heisst wer sich endgültig erobert hat, betrachtet es fürderhin als sein eigenes Vorrecht, sich zu strafen, sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden: er braucht diess Niemandem zuzugestehen, er kann es aber auch einem Andern mit Freiheit in die Hand geben, einem Freunde zum Beispiel, — aber er weiss, dass er damit ein Recht verleiht und dass man nur aus dem Besitze der Macht heraus Rechte verleihen kann.

438.

Mensch und Dinge. — Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege: er verdeckt die Dinge.

439.

Merkmale des Glücks. — Das Gemeinsame aller Glücksempfindungen ist zweierlei: Fülle des Gefühls und Übermuth darin, sodass man wie ein Fisch sein Element um sich fühlt und in ihm springt. Gute Christen werden verstehen, was christliche Ausgelassenheit ist.

440.

Nicht entsagen! — Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, gleich einer Nonne, — das giebt eine unfruchtbare, vielleicht schwermüthige Einsamkeit. Diess hat Nichts gemeinsam mit der Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers: wenn er sie wählt, will er keineswegs entsagen; vielmehr wäre es ihm Entsagung, Schwermuth, Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu müssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil er sich kennt. So springt er in sein Wasser, so gewinnt er seine Heiterkeit.

441.

Warum das Nächste uns immer ferner wird. — Je mehr wir an Alles, was war und sein wird, denken, um so bleicher wird uns Das, was gerade jetzt ist. Wenn wir mit Gestorbenen leben und in ihrem Sterben mitsterben, was sind uns dann noch die Nächsten«? Wir werden einsamer, — und zwar weil die ganze Fluth der Menschheit um uns rauscht. Die Gluth in uns, die allem Menschlichen gilt, nimmt immer zu — und darum blicken wir auf Das, was uns umgiebt, wie als ob es gleichgültiger und schattenhafter geworden wäre. — Aber unser kalter Blick beleidigt

442.

Die Regel. — »Die Regel ist mir immer interessanter, als die Ausnahme«— wer so empfindet, der ist in der Erkenntniss weit voraus und gehört zu den Eingeweihten.

443.

Zur Erziehung.- Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: Niemand lernt, Niemand strebt darnach, Niemand lehrt — die Einsamkeit ertragen.

444.

Verwunderung über Widerstand. — Weil Etwas für uns durchsichtig geworden ist, meinen wir, es könne uns nunmehr keinen Widerstand leisten — und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehen und doch nicht hindurch können! Es ist diess die selbe Thorheit und das selbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster geräth.

445.

Worin sich die Edelsten verrechnen. — Man giebt Jemandem endlich sein Bestes, sein Kleinod, — nun hat die Liebe Nichts mehr zu geben: aber Der, welcher es annimmt, hat daran gewiss nicht sein Bestes, und folglich fehlt ihm jene volle und letzte Erkenntlichkeit, auf welche der Gebende rechnet.

446.

Rangordnung. — Es giebt erstens oberflächliche Denker, zweitens tiefe Denker — solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen — , drittens gründliche Denker, die einer Sache auf den Grund gehen, — was sehr viel mehr werth ist, als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! — endlich solche, welche den Kopf in den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Gründlichkeit sein sollte! Es sind die lieben Untergründlichen.

447.

Meister und Schüler. — Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.