110.

Das, was sich widersetzt. — Man kann folgenden Vorgang an sich beobachten, und ich wollte, er würde oft beobachtet und bestätigt. Es entsteht in uns die Witterung einer Art von Lust, die wir noch nicht kannten, und folglich entsteht ein neues Verlangen. Nun kommt es darauf an, was diesem Verlangen sich widersetzt: sind es Dinge und Rücksichten gemeinerer Art, auch Menschen, welche wenig in unserer Achtung gelten, — so umkleidet sich das Ziel des neuen Verlangens mit der Empfindung» edel, gut, lobenswerth, opferwürdig, «die ganze vererbte moralische Anlage nimmt es nunmehr in sich auf, legt es zu ihren als moralisch empfundenen Zielen — und jetzt meinen wir nicht mehr nach einer Lust, sondern nach einer Moralität zu streben: was die Zuversichtlichkeit unseres Strebens sehr vermehrt.

111.

An die Bewunderer der Objectivität. — Wer als Kind mannichfaltige und starke Gefühle, aber wenig feines Urtheil und Lust an der intellectualen Gerechtigkeit, bei den Verwandten und Bekannten, unter denen er aufwuchs, wahrgenommen und folglich im Nachbilden von Gefühlen seine beste Kraft und Zeit verbraucht hat: bemerkt als Erwachsener an sich, dass jedes neue Ding, jeder neue Mensch sofort Zuneigung oder Abneigung oder Neid oder Verachtung in ihm rege macht; unter dem Drucke dieser Erfahrung, gegen den er sich ohnmächtig fühlt, bewundert er die Neutralität der Empfindung, oder die» Objectivität«, wie ein Wunderding, als Sache des Genie's oder der seltensten Moralität, und will nicht daran glauben, dass auch sie nur das Kind der Zucht und Gewohnheit ist.

112.

Zur Naturgeschichte von Pflicht und Recht. — Unsere Pflichten — das sind die Rechte Anderer auf uns. Wodurch haben sie diese erworben? Dadurch, dass sie uns für vertrags- und vergeltungsfähig nahmen, für gleich und ähnlich mit sich ansetzten, dass sie uns daraufhin Etwas anvertrauten, uns erzogen, zurechtwiesen, unterstützten. Wir erfüllen unsre Pflicht — das heisst: wir rechtfertigen jene Vorstellung von unserer Macht, auf welche hin uns Alles erwiesen wurde, wir geben zurück, in dem Maasse, als man uns gab. So ist es unser Stolz, der die Pflicht zu thun gebeut, — wir wollen unsre Selbstherrlichkeit wiederherstellen, wenn wir dem, was Andre für uns thaten, Etwas entgegenstellen, das wir für sie thun, — denn Jene haben damit in die Sphäre unserer Macht eingegriffen und würden dauernd ihre Hand in ihr haben, wenn wir nicht mit der» Pflicht «eine Wiedervergeltung übten, das heisst in ihre Macht eingriffen. Nur auf Das, was in unsrer Macht steht, können sich die Rechte Anderer beziehen; es wäre unvernünftig, wenn sie Etwas von uns wollten, das uns selber nicht gehört. Genauer muss man sagen: nur auf Das, was sie meinen, dass es in unserer Macht steht, voraussetzend, dass es das Selbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer Macht. Es könnte leicht auf beiden Seiten der gleiche Irrthum sein: das Gefühl der Pflicht hängt daran, dass wir in Bezug auf den Umkreis unserer Macht den selben Glauben haben, wie die Anderen: nämlich dass wir bestimmte Dinge versprechen, uns zu ihnen verpflichten können (»Freiheit des Willens«). — Meine Rechte: das ist jener Theil meiner Macht, den mir die Anderen nicht nur zugestanden haben, sondern in welchem sie mich erhalten wollen. Wie kommen diese Anderen dazu? Einmal: durch ihre Klugheit und Furcht und Vorsicht: sei es, dass sie etwas Ähnliches von uns zurückerwarten (Schutz ihrer Rechte), dass sie einen Kampf mit uns für gefährlich oder unzweckmässig halten, dass sie in jeder Verringerung unserer Kraft einen Nachtheil für sich erblicken, weil wir dann zum Bündniss mit ihnen im Gegensatz zu einer feindseligen dritten Macht ungeeignet werden. Sodann: durch Schenkung und Abtretung. In diesem Falle haben die Anderen Macht genug und übergenug, um davon abgeben zu können und das abgegebene Stück Dem, welchem sie es schenkten, zu verbürgen: wobei ein geringes Machtgefühl bei Dem, der sich beschenken lässt, vorausgesetzt wird. So entstehen Rechte: anerkannte und gewährleistete Machtgrade. Verschieben sich die Machtverhältnisse wesentlich, so vergehen Rechte und es bilden sich neue, — diess zeigt das Völkerrecht in seinem fortwährenden Vergehen und Entstehen. Nimmt unsere Macht wesentlich ab, so verändert sich das Gefühl Derer, welche bisher unser Recht gewährleisteten: sie ermessen, ob sie uns wieder in den alten Vollbesitz bringen können, — fühlen sie sich hierzu ausser Stande, so leugnen sie von da an unsere» Rechte«. Ebenso, wenn unsere Macht erheblich zunimmt, verändert sich das Gefühl Derer, welche sie bisher anerkannten und deren Anerkennung wir nun nicht mehr brauchen: sie versuchen wohl, dieselbe auf das frühere Maass herabzudrücken, sie werden eingreifen wollen und sich auf ihre» Pflicht «dabei berufen, — aber diess ist nur ein unnützes Wortemachen. Wo Recht herrscht, da wird ein Zustand und Grad von Macht aufrecht erhalten, eine Verminderung und Vermehrung abgewehrt. Das Recht Anderer ist die Concession unseres Gefühls von Macht an das Gefühl von Macht bei diesen Anderen. Wenn sich unsere Macht tief erschüttert und gebrochen zeigt, so hören unsere Rechte auf: dagegen hören, wenn wir sehr viel mächtiger geworden sind, die Rechte Anderer für uns auf, wie wir sie bis jetzt ihnen zugestanden. — Der» billige Mensch «bedarf fortwährend des feinen Tactes einer Wage: für die Macht- und Rechtsgrade, welche, bei der vergänglichen Art der menschlichen Dinge, immer nur eine kurze Zeit im Gleichgewichte schweben werden, zumeist aber sinken oder steigen: — billig sein ist folglich schwer und erfordert viel Übung, guten Willen und sehr viel sehr guten Geist. —

113.

Das Streben nach Auszeichnung. — Das Streben nach Auszeichnung hat forwährend ein Augenmerk auf den Nächsten und will wissen, wie es ihm zu Muthe ist: aber die Mitempfindung und das Mitwissen, welche dieser Trieb zu seiner Befriedigung nöthig hat, sind weit davon entfernt, harmlos oder mitleidig oder gütig zu sein. Man will vielmehr wahrnehmen oder errathen, wie der Nächste an uns äusserlich oder innerlich leidet, wie er die Gewalt über sich verliert und dem Eindrucke nachgiebt, den unsere Hand oder auch nur unser Anblick auf ihn machen; und selbst wenn der nach Auszeichnung Strebende einen freudigen, erhebenden oder erheiternden Eindruck macht und machen wollte, so geniesst er diesen Erfolg doch nicht, insofern er dabei den Nächsten erfreute, erhob, erheiterte, sondern insofern er sich der fremden Seele eindrückte, deren Form veränderte und nach seinem Willen über ihr waltete. Das Streben nach Auszeichnung ist das Streben nach Überwältigung des Nächsten, sei es auch eine sehr mittelbare und nur gefühlte oder gar erträumte. Es giebt eine lange Reihe von Graden dieser heimlich begehrten Überwältigung, und ein vollständiges Verzeichniss derselben käme beinahe einer Geschichte der Cultur gleich, von der ersten noch fratzenhaften Barbarei an bis zur Fratze der Überfeinerung und der krankhaften Idealität hinauf. Das Streben nach Auszeichnung bringt für den Nächsten mit sich — um nur einige Stufen dieser langen Leiter mit Namen zu nennen — : Martern, dann Schläge, dann Entsetzen, dann angstvolles Erstaunen, dann Verwunderung, dann Neid, dann Bewunderung, dann Erhebung, dann Freude, dann Heiterkeit, dann Lachen, dann Verlachen, dann Verspotten, dann Verhöhnen, dann Schläge-austheilen, dann Martern-anthun: — hier am Ende der Leiter steht der Asket und Märtyrer, er empfindet den höchsten Genuss dabei, eben Das als Folge seines Triebes nach Auszeichnung selber davon zu tragen, was sein Gegenbild auf der ersten Sprosse der Leiter, der Barbar, dem Anderen zu leiden giebt, an dem und vor dem er sich auszeichnen will. Der Triumph des Asketen über sich selber, sein dabei nach Innen gewendetes Auge, welches den Menschen zu einem Leidenden und zu einem Zuschauenden zerspaltet sieht und fürderhin in die Aussenwelt nur hineinblickt, um aus ihr gleichsam Holz zum eigenen Scheiterhaufen zu sammeln, diese letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung, bei der es nur noch Eine Person giebt, welche in sich selber verkohlt, — das ist der würdige Abschluss, der zu dem Anfange gehört: beidemal ein unsägliches Glück beim Anblick von Martern! In der That, das Glück, als das lebendigste Gefühl der Macht gedacht, ist vielleicht auf der Erde nirgendwo grösser gewesen, als in den Seelen abergläubischer Asketen. Diess drücken die Brahmanen in der Geschichte vom König Viçvamitra aus, der aus tausendjährigen Bussübungen eine solche Kraft Schöpfte, dass er es unternahm, einen neuen Himmel zu erbauen. Ich glaube, in dieser ganzen Gattung innerer Erlebnisse sind wir jetzt grobe Neulinge und tastende Räthselrather; vier Jahrtausende früher wusste man mehr von diesen verruchten Verfeinerungen des Selbstgenusses. Die Schöpfung der Welt: vielleicht, dass sie damals von einem indischen Träumer als eine asketische Procedur gedacht worden ist, welche ein Gott mit sich vornimmt! Vielleicht, dass der Gott sich in die bewegte Natur wie in ein Marterwerkzeug bannen wollte, um dabei seine Seligkeit und Macht verdoppelt zu fühlen! Und gesetzt, es wäre gar ein Gott der Liebe: welcher Genuss für einen solchen, leidende Menschen zu schaffen, an der ungestillten Marter im Anblick derselben recht göttlich und übermenschlich zu leiden und sich dergestalt selber zu tyrannisiren! Und gar gesetzt, es wäre nicht nur ein Gott der Liebe, sondern auch ein Gott der Heiligkeit und Sündlosigkeit: welche Delirien des göttlichen Asketen sind zu ahnen, wenn er Sünde und Sünder und ewige Verdammnisse und unter seinem Himmel und Throne eine ungeheure Stätte der ewigen Qual und des ewigen Stöhnens und Seufzens schafft! — Es ist nicht ganz unmöglich, dass auch die Seelen des Paulus, des Dante, des Calvin und ihres Gleichen einmal in die schauerlichen Geheimnisse solcher Wollüste der Macht eingedrungen sind; — und angesichts solcher Seelen kann man fragen: ja, ist denn wirklich der Kreislauf im Streben nach Auszeichnung mit dem Asketen am letzten Ende angelangt und in sich abgerollt? Könnte dieser Kreis nicht noch einmal von Anfang an durchlaufen werden, mit der festgehaltenen Grundstimmung des Asketen und zugleich des mitleidenden Gottes? Also Anderen wehe thun, um sich dadurch wehe zu thun, um damit wiederum über sich und sein Mitleiden zu triumphiren und in der äussersten Macht zu schwelgen! — Verzeihung für die Ausschweifung im Nachdenken über Alles, was in der seelischen Ausschweifung des Machtgelüstes auf Erden schon möglich gewesen sein kann!