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285.

Die grössten Ereignisse und Gedanken — aber die grössten Gedanken sind die grössten Ereignisse — werden am spätesten begriffen: die Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, erleben solche Ereignisse nicht, — sie leben daran vorbei. Es geschieht da Etwas, wie im Reich der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt am spätesten zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, leugnet der Mensch, dass es dort — Sterne giebt.»Wie viel Jahrhunderte braucht ein Geist, um begriffen zu werden?«— das ist auch ein Maassstab, damit schafft man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth thut: für Geist und Stern. —

286.

«Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben«. — Es giebt aber eine umgekehrte Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die Aussicht frei hat — aber hinab blickt.

287.

— Was ist vornehm? Was bedeutet uns heute noch das Wort» vornehm«? Woran verräth sich, woran erkennt man, unter diesem schweren verhängten Himmel der beginnenden Pöbelherrschaft, durch den Alles undurchsichtig und bleiern wird, den vornehmen Menschen? — Es sind nicht die Handlungen, die ihn beweisen, — Handlungen sind immer vieldeutig, immer unergründlich — ; es sind auch die» Werke «nicht. Man findet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von Solchen, welche durch ihre Werke verrathen, wie eine tiefe Begierde nach dem Vornehmen hin sie treibt: aber gerade dies Bedürfniss nach dem Vornehmen ist von Grund aus verschieden von den Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst, und geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels. Es sind nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen: irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lässt.- Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich.-

288.

Es giebt Menschen, welche auf eine unvermeidliche Weise Geist haben, sie mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen, und die Hände vor die verrätherischen Augen halten (- als ob die Hand kein Verräther wäre! — ): schliesslich kommt es immer heraus, dass sie Etwas haben, das sie verbergen, nämlich Geist. Eins der feinsten Mittel, um wenigstens so lange als möglich zu täuschen und sich mit Erfolg dümmer zu stellen als man ist — was im gemeinen Leben oft so wünschenswerth ist wie ein Regenschirm — , heisst Begeisterung: hinzugerechnet, was hinzu gehört, zum Beispiel Tugend. Denn, wie Galiani sagt, der es wissen musste — : vertu est enthousiasme.

289.

Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem Wiederhall der Oede, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle — sie kann ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein — zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph — gesetzt, dass ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war — seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? — ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph» letzte und eigentliche «Meinungen überhaupt haben könne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse — eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder» Begründung«. Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie — das ist ein Einsiedler-Urtheil:»es ist etwas Willkürliches daran, dass er hier stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, dass er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte, — es ist auch etwas Misstrauisches daran. «Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.

290.

Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden, als das Missverstanden-werden. Am Letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit; am Ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht:»ach, warum wollt ihres auch so schwer haben, wie ich?»

291.

Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft als durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als einfach zu geniessen; und die ganze Moral ist eine beherzte lange Fälschung, vermöge deren überhaupt ein Genuss im Anblick der Seele möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkte gehört vielleicht viel Mehr in den Begriff» Kunst «hinein, als man gemeinhin glaubt.

292.

Ein Philosoph: das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen eignen Gedanken wie von Aussen her, wie von Oben und Unten her, als von seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird; der selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen schwanger geht; ein verhängnissvoller Mensch, um den herum es immer grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht. Ein Philosoph: ach, ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat, — aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder zu sich zu kommen……

293.

Ein Mann, der sagt:»das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will es schützen und gegen Jedermann vertheidigen«; ein Mann, der eine Sache führen, einen Entschluss durchführen, einem Gedanken Treue wahren, ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen kann; ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die Schwachen, Leidenden, Bedrängten, auch die Thiere gern zufallen und von Natur zugehören, kurz ein Mann, der von Natur Herr ist, — wenn ein solcher Mann Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat Werth! Aber was liegt am Mitleiden Derer, welche leiden! Oder Derer, welche gar Mitleiden predigen! Es giebt heute fast überall in Europa eine krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage, eine Verzärtlichung, welche sich mit Religion und philosophischem Krimskrams zu etwas Höherem aufputzen möchte, — es giebt einen förmlichen Cultus des Leidens. Die Unmännlichkeit dessen, was in solchen Schwärmerkreisen» Mitleid «getauft wird, springt, wie ich meine, immer zuerst in die Augen. — Man muss diese neueste Art des schlechten Geschmacks kräftig und gründlich in den Bann thun; und ich wünsche endlich, dass man das gute Amulet» gai saber «sich dagegen um Herz und Hals lege, — »fröhliche Wissenschaft«, um es den Deutschen zu verdeutlichen.

294.

Das olympische Laster. — Jenem Philosophen zum Trotz, der als ächter Engländer dem Lachen bei allen denkenden Köpfen eine üble Nachrede zu schaffen suchte — »das Lachen ist ein arges Gebreste der menschlichen Natur, welches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird«(Hobbes) —, würde ich mir sogar eine Rangordnung der Philosophen erlauben, je nach dem Range ihres Lachens — bis hinauf zu denen, die des goldnen Gelächters fähig sind. Und gesetzt, dass auch Götter philosophiren, wozu mich mancher Schluss schon gedrängt hat — , so zweifle ich nicht, dass sie dabei auch auf eine übermenschliche und neue Weise zu lachen wissen — und auf Unkosten aller ernsten Dinge! Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen.