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272.

Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu Pflichten für Jedermann herabzusetzen; die eigne Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen.

273.

Ein Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und Hemmniss — oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthümliche hochgeartete Güte gegen Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf seiner Höhe ist und herrscht. Die Ungeduld und sein Bewusstsein, bis dahin immer zur Komödie verurtheilt zu sein — denn selbst der Krieg ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den Zweck verbirgt — , verdirbt ihm jeden Umgang: diese Art Mensch kennt die Einsamkeit und was sie vom Giftigsten an sich hat.

274.

Das Problem der Wartenden. — Es sind Glücksfälle dazu nöthig und vielerlei Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung eines Problems schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt — »zum Ausbruch«, wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich nicht, und in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen, in wiefern sie warten, noch weniger aber, dass sie umsonst warten. Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die» Erlaubniss «zum Handeln giebt, — dann, wenn bereits die beste Jugend und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist; und wie Mancher fand, eben als er» aufsprang«, mit Schrecken seine Glieder eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer!» Es ist zu spät«— sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer unnütz. — Sollte, im Reiche des Genie's, der» Raffael ohne Hände«, das Wort im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein? — Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten: aber die fünfhundert Hände, die es nöthig hat, um den χαιρος,»die rechte Zeit«— zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen!

275.

Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt um so schärfer nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist — und verräth sich selbst damit.

276.

Bei aller Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere Seele besser daran, als die vornehmere: die Gefahren der letzteren müssen grösser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer Lebensbedingungen, ungeheuer. — Bei einer Eidechse wächst ein Finger nach, der ihr verloren gieng: nicht so beim Menschen. —

277.

— Schlimm genug! Wieder die alte Geschichte! Wenn man sich sein Haus fertig gebaut hat, merkt man, unversehens Etwas dabei gelernt zu haben, das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu bauen — anfieng. Das ewige leidige» Zu spät!«— Die Melancholie alles Fertigen!…..

278.

— Wanderer, wer bist du? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn, ohne Liebe, mit unerrathbaren Augen; feucht und traurig wie ein Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an's Licht gekommen — was suchte es da unten? — , mit einer Brust, die nicht seufzt, mit einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch langsam greift: wer bist du? was thatest du? Ruhe dich hier aus: diese Stelle ist gastfreundlich für Jedermann, — erhole dich! Und wer du auch sein magst: was gefällt dir jetzt? Was dient dir zur Erholung? Nenne es nur: was ich habe, biete ich dir an! — »Zur Erholung? Zur Erholung? Oh du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gieb mir, ich bitte — «Was? Was? sprich es aus! — »Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!«…..

279.

Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich sind: sie haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es erdrücken und ersticken möchten, aus Eifersucht, — ach, sie wissen zu gut, dass es ihnen davonläuft!

280.

«Schlimm! Schlimm! Wie? geht er nicht — zurück?«— Ja! Aber ihr versteht ihn schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie jeder, der einen grossen Sprung thun will. —

281.

«Wird man es mir glauben? aber ich verlange, dass man mir es glaubt: ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, nur in ganz seltnen Fällen, nur gezwungen, immer ohne Lust» zur Sache«, bereit, von» Mir «abzuschweifen, immer ohne Glauben an das Ergebniss, Dank einem unbezwinglichen Misstrauen gegen die Möglichkeit der Selbst-Erkenntniss, das mich so weit geführt hat, selbst am Begriff» unmittelbare Erkenntniss«, welchen sich die Theoretiker erlauben, eine contradictio in adjecto zu empfinden: — diese ganze Thatsache ist beinahe das Sicherste, was ich über mich weiss. Es muss eine Art Widerwillen in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben. — Steckt darin vielleicht ein Räthsel? Wahrscheinlich; aber glücklicherweise keins für meine eigenen Zähne. — Vielleicht verräth es die species, zu der ich gehöre? — Aber nicht mir: wie es mir selbst erwünscht genug ist.»

282.

«Aber was ist dir begegnet?«—»Ich weiss es nicht, sagte er zögernd; vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen.«— Es kommt heute bisweilen vor, dass ein milder mässiger zurückhaltender Mensch plötzlich rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch umwirft, schreit, tobt, alle Welt beleidigt — und endlich bei Seite geht, beschämt, wüthend über sich, — wohin? wozu? Um abseits zu verhungern? Um an seiner Erinnerung zu ersticken? — Wer die Begierden einer hohen wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine Nahrung bereit findet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten gross sein: heute aber ist sie ausserordentlich. In ein lärmendes und pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch» zugreift«— vor plötzlichem Ekel zu Grunde gehn. — Wir haben wahrscheinlich Alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht hingehörten; und gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsre Kost und Tischnachbarschaft entsteht, — den Nachtisch-Ekel.

283.

Es ist eine feine und zugleich vornehme Selbstbeherrschung, gesetzt, dass man überhaupt loben will, immer nur da zu loben, wo man nicht übereinstimmt: — im andern Falle würde man ja sich selbst loben, was wider den guten Geschmack geht — freilich eine Selbstbeherrschung, die einen artigen Anlass und Anstoss bietet, um beständig missverstanden zu werden. Man muss, um sich diesen wirklichen Luxus von Geschmack und Moralität gestatten zu dürfen, nicht unter Tölpeln des Geistes leben, vielmehr unter Menschen, bei denen Missverständnisse und Fehlgriffe noch durch ihre Feinheit belustigen, — oder man wird es theuer büssen müssen! — »Er lobt mich: also giebt er mir Recht«— diese Eselei von Schlussfolgerung verdirbt uns Einsiedlern das halbe Leben, denn es bringt die Esel in unsre Nachbarschaft und Freundschaft.

284.

Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits — . Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf Pferde, oft wie auf Esel: — man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe sich bewahren; auch die schwarze Brille: denn es giebt Fälle, wo uns Niemand in die Augen, noch weniger in unsre» Gründe «sehn darf. Und jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen, die Höflichkeit. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei Berührung von Mensch und Mensch — »in Gesellschaft«— unvermeidlich-unreinlich zugehn muss. Jede Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann — »gemein».