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Im April mazerierten sie Ginster und Orangenblüte, im Mai ein Meer von Rosen, deren Duft die Stadt für einen ganzen Monat in einen cremigsüßen unsichtbaren Nebel tauchte. Grenouille arbeitete wie ein Pferd. Bescheiden, mit fast sklavenhafter Bereitschaft führte er all die untergeordneten Tätigkeiten aus, die Druot ihm auftrug. Aber während er scheinbar stumpfsinnig rührte, spachtelte, Bottiche wusch, die Werkstatt putzte oder Feuerholz schleppte, entging seiner Aufmerksamkeit nichts von den wesentlichen Dingen des Geschäfts, nichts von der Metamorphose der Düfte. Genauer als Druot es je vermocht hätte, mit seiner Nase nämlich, verfolgte und überwachte Grenouille die Wanderung der Düfte von den Blättern der Blüten über das Fett und den Alkohol bis in die köstlichen kleinen Flakons. Er roch, lange ehe Druot es bemerkte, wann sich das Fett zu stark erhitzte, er roch, wann die Blüte erschöpft, wann die Suppe mit Duft gesättigt war, er roch, was im Innern der Mischgefäße geschah und zu welchem präzisen Moment der Destillationsprozess beendet werden musste. Und gelegentlich gab er sich zu verstehen, freilich ganz unverbindlich und ohne seine unterwürfige Attitüde abzulegen. Ihm komme so vor, sagte er, als sei das Fett jetzt womöglich zu heiß geworden; er glaube fast, man könne demnächst abseihen; er habe es irgendwie im Gefühl, als sei der Alkohol im Alambic jetzt verdunstet… Und Druot, der zwar nicht gerade fabelhaft intelligent, aber auch nicht völlig dumpfköpfig war, bekam mit der Zeit heraus, dass er mit seinen Entscheidungen justament dann am besten fuhr, wenn er das tat oder anordnete, was Grenouille gerade »so glaubte« oder »irgendwie im Gefühl« hatte. Und da Grenouille niemals vorlaut oder besserwisserisch äußerte, was er glaubte oder im Gefühl hatte, und weil er niemals und vor allem niemals in Gegenwart von Madame Arnulfi – Druots Autorität und seine präponderante Stellung als des ersten Gesellen auch nur ironisch in Zweifel gezogen hätte, sah Druot keinen Anlass, Grenouilles Ratschlägen nicht zu folgen, ja, ihm sogar nicht mit der Zeit immer mehr Entscheidungen ganz offen zu überlassen.
Immer häufiger geschah es, dass Grenouille nicht mehr nur rührte, sondern zugleich auch beschickte, heizte und siebte, während Druot auf einen Sprung in die >Quatre Dauphins< verschwand, für ein Glas Wein, oder hinauf zu Madame, um dort nach dem Rechten zu sehn. Er wusste, dass er sich auf Grenouille verlassen konnte. Und Grenouille, obwohl er doppelte Arbeit verrichtete, genoss es, allein zu sein, sich in der neuen Kunst zu perfektionieren und gelegentlich kleine Experimente zu machen. Und mit diebischer Freude stellte er fest, dass die von ihm bereitete Pomade ungleich feiner, dass seine Essence Absolue um Grade reiner war als die gemeinsam mit Druot erzeugte.
Ende Juli begann die Zeit des Jasmins, im August die der Nachthyazinthe. Beide Blumen waren von so exquisitem und zugleich fragilem Parfum, dass ihre Blüten nicht nur vor Sonnenaufgang gepflückt werden mussten, sondern auch die speziellste, zarteste Verarbeitung erheischten. Wärme verminderte ihren Duft, das plötzliche Bad im heißen Mazerationsfett hätte ihn völlig zerstört. Diese edelsten aller Blüten ließen sich ihre Seele nicht einfach entreißen, man musste sie ihnen regelrecht abschmeicheln. In einem besonderen Beduftungsraum wurden sie auf mit kühlem Fett bestrichene Platten gestreut oder locker in ölgetränkte Tücher gehüllt und mussten sich langsam zu Tode schlafen. Erst nach drei oder vier Tagen waren sie verwelkt und hatten ihren Duft an das benachbarte Fett und Öl abgeatmet. Dann zupfte man sie vorsichtig ab und streute frische Blüten aus. Der Vorgang wurde wohl zehn, zwanzig Mal wiederholt, und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und das duftende Öl aus den Tüchern abgepresst werden konnte, war es September geworden. Die Ausbeute war noch um ein Wesentliches geringer als bei der Mazeration. Die Qualität aber einer solchen durch kalte Enfleurage gewonnenen Jasminpaste oder eines Huile Antique de Tubereuse übertraf die jedes anderen Produkts der parfumistischen Kunst an Feinheit und Originaltreue. Namentlich beim Jasmin schien es, als habe sich der süßhaftende, erotische Duft der Blüte auf den Fettplatten wie in einem Spiegel abgebildet und strahle nun völlig naturgetreu zurück – cum grano salis freilich. Denn Grenouilles Nase erkannte selbstverständlich noch den Unterschied zwischen dem Geruch der Blüte und ihrem konservierten Duft: Wie ein zarter Schleier lag da der Eigengeruch des Fetts – es mochte so rein sein, wie es wollte – über dem Duftbild des Originals, milderte es, schwächte das Eklatante sanft ab, machte vielleicht sogar seine Schönheit für gewöhnliche Menschen überhaupt erst erträglich… In jedem Falle aber war die kalte Enfleurage das raffinierteste und wirksamste Mittel, zarte Düfte einzufangen. Ein besseres gab es nicht. Und wenn die Methode auch nicht genügte, Grenouilles Nase vollkommen zu überzeugen, so wusste er doch, dass sie zur Düpierung einer Welt von Dumpfnasen tausendmal hinreichte.
Schon nach kurzer Zeit hatte er seinen Lehrmeister Druot, ebenso wie beim Mazerieren, auch in der Kunst der kalten Beduftung überflügelt und ihm dies auf die bewährte, unterwürfig diskrete Weise klargemacht. Druot überließ es ihm gerne, hinaus zum Schlachthof zu gehen und dort die geeignetsten Fette zu kaufen, sie zu reinigen, auszulassen, zu filtrieren und ihr Mischverhältnis zu bestimmen – eine für Druot immer höchst diffizile und gefürchtete Aufgabe, denn ein unreines, ranziges oder zu sehr nach Schwein, Hammel oder Rind riechendes Fett konnte die kostbarste Pomade ruinieren. Er überließ es ihm, den Abstand der Fettplatten im Beduftungsraum, den Zeitpunkt des Blütenwechsels, den Sättigungsgrad der Pomade zu bestimmen, überließ ihm bald alle prekären Entscheidungen, die er, Druot, ähnlich wie seinerzeit Baldini, immer nur ungefähr nach angelernten Regeln treffen konnte, die Grenouille aber mit dem Wissen seiner Nase traf – was Druot freilich nicht ahnte.
»Er hat eine glückliche Hand«, sagte Druot, »er hat ein gutes Gefühl für die Dinge.« Und manchmal dachte er auch: »Er ist ganz einfach viel begabter als ich, er ist ein hundertmal besserer Parfumeur.« Und zugleich hielt er ihn für einen ausgemachten Trottel, da Grenouille, wie er glaubte, nicht das geringste Kapital aus seiner Begabung schlug, er aber, Druot, es mit seinen bescheideneren Fähigkeiten demnächst zum Meister bringen würde. Und Grenouille bestärkte ihn in dieser Meinung, gab sich mit Fleiß dümmlich, zeigte nicht den geringsten Ehrgeiz, tat, als wisse er gar nichts von seiner eigenen Genialität, sondern als handle er nur nach den Anordnungen des viel erfahreneren Druot, ohne den er ein Nichts wäre. Auf diese Weise kamen sie recht gut miteinander aus.
Dann wurde es Herbst und Winter. In der Werkstatt ging es ruhiger zu. Die Blütendüfte lagen in Tiegeln und Flakons gefangen im Keller, und wenn nicht Madame die eine oder andre Pomade auszuwaschen wünschte oder einen Sack getrockneter Gewürze destillieren ließ, war nicht mehr allzu viel zu tun. Oliven gab es noch, Woche für Woche ein paar Körbe voll. Sie pressten ihnen das Jungfernöl ab und gaben den Rest in die Ölmühle. Und Wein, von dem Grenouille einen Teil zu Alkohol destillierte und rektifizierte.
Druot ließ sich immer weniger blicken. Er tat seine Pflicht im Bett von Madame, und wenn er erschien, nach Schweiß und Samen stinkend, so nur, um alsbald in die >Quatre Dauphins< zu verschwinden. Auch Madame kam selten herunter. Sie beschäftigte sich mit ihren Vermögensangelegenheiten und mit der Umarbeitung ihrer Garderobe für die Zeit nach dem Trauerjahr. Oft sah Grenouille tagelang niemanden außer der Magd, bei der er mittags Suppe bekam und abends Brot und Oliven. Er ging kaum aus. Am korporativen Leben, namentlich den regelmäßigen Gesellentreffen und Umzügen beteiligte er sich gerade so häufig, dass er weder durch seine Abwesenheit noch durch seine Gegenwart auffiel. Freundschaften oder nähere Bekanntschaften hatte er keine, achtete aber peinlich darauf, nicht womöglich als arrogant oder außenseiterisch zu gelten. Er überließ es den anderen Gesellen, seine Gesellschaft fad und unergiebig zu finden. Er war ein Meister in der Kunst, Langeweile zu verbreiten und sich als unbeholfenen Trottel zu geben – freilich nie so übertrieben, dass man sich mit Genuss über ihn lustig machen oder ihn als Opfer für irgendeinen der derben Zunftspäße gebrauchen hätte können. Es gelang ihm, als vollständig uninteressant zu gelten. Man ließ ihn in Ruhe. Und nichts anderes wollte er.