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Baldini hatte deren Tausende. Sein Angebot reichte von Essences absolues, Blütenölen, Tinkturen, Auszügen, Sekreten, Balsamen, Harzen und sonstigen Drogen in trockener, flüssiger oder wachsartiger Form, über diverse Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes, Sachets, Bandolinen, Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen und Schönheitspflästerchen bis hin zu Badewässern, Lotionen, Riechsalzen, Toilettenessigen und einer Unzahl echter Parfums. Doch Baldini begnügte sich nicht mit diesen Produkten der klassischen Schönheitspflege. Sein Ehrgeiz bestand darin, in seinem Laden alles zu versammeln, was irgendwie duftete oder in irgendeiner Weise dem Duft diente. Und so fanden sich neben Räucherpastillen, Räucherkerzen und Räucherbändern auch sämtliche Gewürze vom Anissamen bis zur Zimtrinde, Sirups, Liköre und Obstwässer, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige, Kaffees, Tees, getrocknete und kandierte Früchte, Feigen, Bonbons, Schokoladen, Maronen, ja sogar eingelegte Kapern, Gurken und Zwiebeln und marinierter Thunfisch. Und dann wieder duftender Siegellack, parfumiertes Briefpapier, nach Rosenöl riechende Liebestinte, Schreibmappen aus spanischem Leder, Federhalter aus weißem Sandelholz, Kästchen und Truhen aus Zedernholz, Potpourris und Schalen für Blütenblätter, Weihrauchbehälter aus Messing, Flakons und Tiegelchen aus Kristall mit geschliffenen Stöpseln aus Bernstein, riechende Handschuhe, Taschentücher, mit Muskatblüte gefüllte Nähnadelkissen und moschusbedampfte Tapeten, die ein Zimmer länger als einhundert Jahre mit Duft erfüllen konnten.

Natürlich hatten all diese Waren nicht im pompösen, zur Straße (oder zur Brücke) hin gelegenen Laden Platz, und so mussten, in Ermanglung eines Kellers, nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste und zweite Stock sowie fast sämtliche zum Fluss hin gelegenen Räume des Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon war, dass im Hause Baldini ein unbeschreibliches Chaos von Düften herrschte. So erlesen die Qualität der einzelnen Produkte war – denn Baldini kaufte nur allererste Qualität – , so unerträglich war ihr geruchlicher Zusammenklang, gleich einem tausendköpfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren gegen dieses Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja sämtlich schwerhörig sind, und auch seine Frau, die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen ein weiteres Vordringen der Lagerräume verteidigte, nahm die vielen Gerüche kaum noch als störend wahr. Anders der Kunde, der zum ersten Mal Baldinis Laden betrat. Ihm schlug das herrschende Duftgemisch wie eine Faust ins Gesicht, machte ihn, je nach Konstitution, exaltiert oder benommen, verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart, dass er oft nicht mehr wusste, weshalb er überhaupt gekommen war. Laufburschen vergaßen ihre Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen halb hysterischen, halb klaustrophobischen Anfall, sank in Ohnmacht und konnte nur noch mit schärfstem Riechsalz aus Nelkenöl, Ammoniak und Kampfersprit wiederhergestellt werden.

Unter diesen Umständen war es eigentlich nicht verwunderlich, dass das persische Glockenspiel von Giuseppe Baldinis Ladentüre immer seltener erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien.

10

»Chenier!« rief Baldini hinter dem Kontor hervor, wo er seit Stunden säulenstarr gestanden und die Türe angestarrt hatte, »ziehen Sie Ihre Perücke an!« Und zwischen Olivenölfässern und hängenden Schinken aus Bayonne erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas jünger als dieser, aber auch schon ein alter Mann, und kam nach vorn in die feinere Abteilung des Ladens. Er zog seine Perücke aus der Rocktasche und stülpte sie sich über. »Sie gehen aus, Herr Baldini?«

»Nein«, sagte Baldini, »ich werde mich für einige Stunden in mein Arbeitszimmer zurückziehen und wünsche, absolut nicht gestört zu werden.«

»Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum.«

BALDINI So ist es. Zur Beduftung einer spanischen Haut für den Grafen Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt etwas wie… wie … ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und stammt angeblich von diesem… diesem Stümper aus der Rue Saint-Andre des Arts, diesem… diesem…

CHENIER Pelissier.

BALDINI Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der Stümper. >Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es?

CHENIER Jaja. Dochdoch. Man riecht es jetzt überall. An jeder Straßenecke riecht man es. Aber wenn Sie mich fragen – nichts Besonderes! Es kann sich bestimmt in keiner Weise messen mit dem, welches Sie komponieren werden, Herr Baldini.

BALDINI Natürlich nicht.

CHENIER Es riecht äußerst gewöhnlich, dieses >Amor und Psyche<.

BALDINI Vulgär?

CHENIER Durchaus vulgär, wie alles von Pelissier. Ich glaube, es ist Limettenöl darin.

BALDINI Wirklich? Was noch?

CHENIER Orangenblütenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur. Aber ich kann es nicht sicher sagen.

BALDINI Es ist mir auch völlig gleichgültig.

CHENIER Natürlich.

BALDINI Es ist mir schnurzegal, was der Stümper Pelissier in sein Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen!

CHENIER Da haben Sie Recht, Monsieur.

BALDINI Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen, erarbeite ich meine Parfums.

CHENIER Ich weiß, Monsieur.

BALDINI Gebäre sie allein aus mir!

CHENIER Ich weiß.

BALDINI Und ich gedenke, für den Grafen Verhamont etwas zu kreieren, was wirklich Furore macht.

CHENIER Davon bin ich überzeugt, Herr Baldini.

BALDINI Sie übernehmen den Laden. Ich brauche Ruhe. Halten Sie mir alles vom Leibe, Chenier…

Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es seinem Alter zukam, gebeugt, ja fast wie geprügelt, davon und stieg langsam die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur Türe. Er wusste, was in den nächsten Stunden passieren würde: nämlich gar nichts im Laden, und oben im Arbeitszimmer Baldinis die übliche Katastrophe. Baldini würde seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtränkten Rock ausziehen, sich an den Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung würde nicht kommen. Er würde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von Probefläschchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese Mischung würde missraten. Er würde fluchen, das Fenster aufreißen und sie in den Fluss hinunterwerfen. Er würde etwas anderes probieren, auch das würde missraten, er würde nun schreien und toben und in dem schon betäubend riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er würde gegen sieben Uhr abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen:

»Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht gebären, ich kann die spanische Haut für den Grafen nicht liefern, ich bin verloren, ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen Sie mir zu sterben!« Und Chenier würde vorschlagen, dass man zu Pelissier schickte um eine Flasche >Amor und Psyche<, und Baldini würde zustimmen unter der Bedingung, dass kein Mensch von dieser Schande erführe, Chenier würde schwören, und nachts würden sie heimlich das Leder für den Grafen Verhamont mit dem fremden Parfum beduften. So würde es sein und nicht anders, und Chenier wünschte nur, er hätte das ganze Theater schon hinter sich. Baldini war kein großer Parfumeur mehr. Ja, früher, in seiner Jugend, vor dreißig, vierzig Jahren, da hatte er >Rose des Südens< erfunden und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große Düfte, denen er sein Vermögen verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn er überhaupt noch einmal einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es vollkommen demodiertes, unverkäufliches Zeug, das sie ein Jahr später zehnfach verdünnten und als Springbrunnenwasserzusatz verhökerten. Schade um ihn, dachte Chenier und überprüfte den Sitz seiner Perücke im Spiegel, schade um den alten Baldini; schade um sein schönes Geschäft, denn er wird's herunterbringen; und schade um mich, denn bis er's heruntergebracht haben wird, bin ich zu alt, um es zu übernehmen…