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Für Grenouille stand fest, dass ohne den Besitz des Duftes sein Leben keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte zarteste Verästelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe Erinnerung an ihn genügte nicht. Er wollte wie mit einem Prägestempel das apotheotische Parfum ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser Zauberformel denken, leben, riechen.

Er ging langsam auf das Mädchen zu, immer näher, trat unter das Vordach und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie hörte ihn nicht.

Sie hatte rote Haare und trug ein graues Kleid ohne Ärmel. Ihre Arme waren sehr weiß und ihre Hände gelb vom Saft der aufgeschnittenen Mirabellen. Grenouille stand über sie gebeugt und sog ihren Duft jetzt völlig unvermischt ein, so wie er aufstieg von ihrem Nacken, ihren Haaren, aus dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in sich hineinströmen wie einen sanften Wind. Ihm war noch nie so wohl gewesen. Dem Mädchen aber wurde es kühl.

Sie sah Grenouille nicht. Aber sie bekam ein banges Gefühl, ein sonderbares Frösteln, wie man es bekommt, wenn einen plötzlich eine alte abgelegte Angst befällt. Ihr war, als herrsche da ein kalter Zug in ihrem Rücken, als habe jemand eine Türe aufgestoßen, die in einen riesengroßen kalten Keller führt. Und sie legte ihr Küchenmesser weg, zog die Arme an die Brust und wandte sich um.

Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte, ihr seine Hände um den Hals zu legen. Sie versuchte keinen Schrei, rührte sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an. Ihr feines sommersprossenübersprenkeltes Gesicht, den roten Mund, die großen funkelnd grünen Augen sah er nicht, denn er hielt seine Augen fest geschlossen, während er sie würgte, und hatte nur die eine Sorge, von ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren.

Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie überschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er stürzte sein Gesicht auf ihre Haut und fuhr mit weitgeblähten Nüstern von ihrem Bauch zurBrust, zum Hals, in ihr Gesicht und durch die Haare und zurück zum Bauch, hinab an ihr Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge.

Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr hocken, um sich zu versammeln, denn er war übervoll von ihr. Er wollte nichts von ihrem Duft verschütten. Erst musste er die innern Schotten dicht verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus…… Um diese Zeit kamen die ersten Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue de Seine herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits Augustins hinüber, die parallel zur Rue de Seine zum Fluss führte. Wenig später entdeckte man die Tote. Geschrei erhob sich. Fackeln wurden angezündet. Die Wache kam. Grenouille war längst am anderen Ufer.

In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Glück sei, hatte er in seinem Leben bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zustände von dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Glück und konnte vor lauter Glückseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als würde er zum zweiten Mal geboren, nein, nic ht zum zweiten, zum ersten Mal, denn bisher hatte er bloß animalisch existiert in höchst nebulöser Kenntnis seiner selbst. Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich sei: nämlich nichts anderes als ein Genie; und dass sein Leben Sinn und Zweck und Ziel und höhere Bestimmung habe: nämlich keine geringere, als die Welt der Düfte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle Mittel besitze: nämlich seine exquisite Nase, sein phänomenales Gedächtnis und, als Wichtigstes von allem, den prägenden Duft dieses Mädchens aus der Rue des Marais, in welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen großen Duft, was ein Parfum ausmachte: Zartheit, Kraft, Dauer, Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Schönheit. Er hatte den Kompass für sein künftiges Leben gefunden. Und wie alle genialen Scheusale, denen durch ein äußeres Ereignis ein gerades Geleis ins Spiralenchaos ihrer Seelen gelegt wird, wich Grenouille von dem, was er als Richtung seines Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht mehr ab. Jetzt wurde ihm klar, weshalb er so zäh und verbissen am Leben hing: Er musste ein Schöpfer von Düften sein. Und nicht nur irgendeiner. Sondern der größte Parfumeur aller Zeiten.

Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum, das riesige Trümmerfeld seiner Erinnerung. Er prüfte die Millionen und Abermillionen von Duftbauklötzen und brachte sie in eine systematische Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches zu Ambrosischem. Im Verlauf der nächsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der Düfte immer reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgebäude aufzurichten: Häuser, Mauern, Stufen, Türme, Keller, Zimmer, geheime Gemächer… eine täglich sich erweiternde, täglich sich verschönende und perfekter gefügte innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen. Dass am Anfang dieser Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn überhaupt bewusst, vollkommen gleichgültig. An das Bild des Mädchens aus der Rue des Marais, an ihr Gesicht, an ihren Körper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip ihres Dufts.

9

Zu jener Zeit gab es in Paris ein gutes Dutzend Parfumeure. Sechs von ihnen lebten am rechten Ufer, sechs am linken Ufer, und einer akkurat dazwischen, nämlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer mit der Ile de la Cité verband. Diese Brücke war zu beiden Seiten so dicht mit vierstöckigen Häusern bebaut, dass man beim Überschreiten den Fluss an keiner Stelle zu Gesicht bekam, sondern sich auf einer ganz normalen, fest fundierten und obendrein noch äußerst eleganten Straße wähnte. In der Tat galt der Pont au Change für eine der feinsten Geschäftsadressen der Stadt. Hier befanden sich die renommiertesten Läden, hier saßen die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Perückenmacher und Taschner, die Verfertiger feinster Dessous und Strümpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelhändler, Epaulettensticker, Goldknöpfegießer und Bankiers. Und hier lag auch das Geschäfts- und Wohnhaus des Parfumeurs und Handschuhmachers Giuseppe Baldini. Über sein Schaufenster spannte sich ein prächtiger grünlackierter Baldachin, daneben hing Baldinis Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon, aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der Türe lag ein roter Teppich, der ebenfalls Baldinis Wappen trug, als goldene Stickerei. Öffnete man die Türe, dann erklang ein persisches Glockenspiel, und zwei silberne Reiher begannen, aus ihren Schnäbeln Veilchenwasser in eine vergoldete Schale zu speien, die ihrerseits die Flakonform von Baldinis Wappen besaß.

Hinter dem Kontor aus hellem Buchsbaum aber stand Baldini selbst, alt und starr wie eine Säule, in silberbepuderter Perücke und blauem goldbetresstem Rock. Eine Wolke von Frangipaniwasser, mit dem er sich allmorgendlich besprühte, umgab ihn geradezu sichtbar und rückte seine Person in nebelhafte Ferne. In seiner Unbeweglichkeit sah er aus wie sein eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien – beides geschah nicht allzu oft – , würde plötzlich Leben in ihn kommen, würde seine Gestalt in sich zusammensinken, klein und wuselig werden und unter vielen Bücklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen, so schnell, dass die Frangipaniwasserwolke kaum zu folgen vermöchte, und den Kunden bitten, Platz zu nehmen zur Vorführung erlesenster Düfte und Kosmetika.