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»Bist du krank, Mutter?«frage ich»Ich werde heute etwas aufstehen«, sagt sie und wendet sich zu meiner Schwester, die immer auf einen Sprung in die Küche muß, damit ihr das Essen nicht anbrennt:»Mach auch das Glas mit den eingemachten Preiselbeeren auf, – das ißt du doch gern?«fragt sie mich.

»Ja, Mutter, das habe ich lange nicht gehabt.«

»Als ob wir es geahnt hätten, daß du kommst«, lacht meine Schwester,»gerade dein Lieblingsessen, Kartoffelpuffer, und

jetzt sogar mit Preiselbeeren.«

»Es ist ja auch Sonnabend«, antworte ich.

»Setz dich zu mir«, sagt meine Mutter.

Sie sieht mich an. Ihre Hände sind weiß und kränklich und schmal gegen meine. Wir sprechen nur einige Worte, und ich bin ihr dankbar dafür, daß sie nichts fragt. Was soll ich auch sagen: Alles, was möglich war, ist ja geschehen. Ich bin heil herausgelangt und sitze neben ihr. Und in der Küche steht meine Schwester und macht das Abendbrot und singt dazu.

»Mein lieber Junge«, sagt meine Mutter leise.

Wir sind nie sehr zärtlich in der Familie gewesen, das ist nicht üblich bei armen Leuten, die viel arbeiten müssen und Sorgen haben. Sie können das auch nicht so verstehen, sie beteuern nicht gern etwas öfter, was sie ohnehin wissen. Wenn meine Mutter zu mir»lieber Junge«sagt, so ist das so viel, als wenn eine andere wer weiß was anstellt. Ich weiß bestimmt, daß das Glas mit Preiselbeeren das einzige ist seit Monaten und daß sie es aufbewahrt hat für mich, ebenso wie die schon alt schmeckenden Kekse, die sie mir jetzt gibt. Sie hat sicher bei einer günstigen Gelegenheit einige erhalten und sie gleich zurückgelegt für mich.

Ich sitze an ihrem Bett, und durch das Fenster funkeln in Braun und Gold die Kastanien des gegenüberliegenden Wirtsgartens. Ich atme langsam ein und aus und sage mir:»Du bist zu Hause, du bist zu Hause.«Aber eine Befangenheit will nicht von mir weichen, ich kann mich noch nicht in alles hineinfinden. Da ist meine Mutter, da ist meine Schwester, da mein Schmetterlingskasten und da das Mahagoniklavier – aber ich bin noch nicht ganz da. Es sind ein Schleier und ein Schritt dazwischen.

Deshalb gehe ich jetzt, hole meinen Tornister ans Bett und packe aus, was ich mitgebracht habe: einen ganzen Edamer Käse, den Kat mir besorgt hat, zwei Kommißbrote, dreiviertel Pfund Butter, zwei Büchsen Leberwurst, ein Pfund Schmalz und ein Säckchen Reis.

»Das könnt ihr sicher gebrauchen -«

Sie nicken.»Hier ist es wohl schlecht damit?«erkundige ich mich.

»Ja, es gibt nicht viel. Habt ihr denn draußen genug?«Ich lächele und zeige auf die mitgebrachten Sachen.»So viel ja nun nicht immer, aber es geht doch einigermaßen.«Erna bringt die Lebensmittel fort. Meine Mutter nimmt plötzlich heftig meine Hand und fragt stockend:»War es sehr schlimm draußen, Paul?«

Mutter, was soll ich dir darauf antworten! Du wirst es nicht verstehen und nie begreifen. Du sollst es auch nie begreifen. War es schlimm, fragst du. – Du, Mutter. – Ich schüttele den Kopf und sage:»Nein, Mutter, nicht so sehr. Wir sind ja mit vielen zusammen, da ist es nicht so schlimm.«

»Ja, aber kürzlich war Heinrich Bredemeyer hier, der erzählte, es wäre jetzt furchtbar draußen, mit dem Gas und all dem andern.«

Es ist meine Mutter, die das sagt. Sie sagt: mit dem Gas und all dem andern. Sie weiß nicht, was sie spricht, sie hat nur Angst um mich. Soll ich ihr erzählen, daß wir einmal drei gegnerische Gräben fanden, die erstarrt waren in ihrer Haltung, wie vom Schlag getroffen? Auf den Brustwehren, in den Unterständen, wo sie gerade waren, standen und lagen die Leute mit blauen Gesichtern, tot.

»Ach, Mutter, was so geredet wird«, antworte ich,»der Bredemeyer erzählt nur so etwas dahin. Du siehst ja, ich bin heil und dick -«

An der zitternden Sorge meiner Mutter finde ich meine Ruhe wieder. Jetzt kann ich schon umhergehen und sprechen und Rede stehen, ohne Furcht, mich plötzlich an die Wand lehnen zu müssen, weil die Welt weich wird wie Gummi und die Adern mürbe wie Zunder.

Meine Mutter will aufstehen, ich gehe solange in die Küche zu meiner Schwester.»Was hat sie?«frage ich. Sie zuckt die Achseln:»Sie liegt schon ein paar Monate, wir sollten es dir aber nicht schreiben. Es sind mehrere Ärzte bei ihr gewesen. Einer sagte, es wäre wohl wieder Krebs.«

* * *

Ich gehe zum Bezirkskommando, um mich anzumelden. Langsam wandere ich durch die Straßen. Hier und da spricht mich jemand an. Ich halte mich nicht lange auf, denn ich will nicht so viel reden.

Als ich aus der Kaserne zurückkomme, ruft mich eine laute Stimme an. Ich drehe mich um, ganz in Gedanken, und stehe einem Major gegenüber. Er fährt mich an:»Können Sie nicht grüßen?«

»Entschuldigen Herr Major«, sage ich verwirrt,»ich habe Sie nicht gesehen.«

Er wird noch lauter:»Können Sie sich auch nicht vernünftig ausdrücken?«

Ich möchte ihm ins Gesicht schlagen, beherrsche mich aber, denn sonst ist mein Urlaub hin, nehme die Knochen zusammen und sage:»Ich habe Herrn Major nicht gesehen.«»Dann passen Sie gefälligst auf!«schnauzt er.»Wie heißen Sie?«

Ich rapportiere.

Sein rotes, dickes Gesicht ist immer noch empört.»Truppenteil?«

Ich melde vorschriftsmäßig. Er hat immer noch nicht genug.»Wo liegen Sie?«

Aber ich habe jetzt genug und sage:»Zwischen Langemark und Bixschoote.«

»Wieso?«fragt er etwas verblüfft.

Ich erkläre ihm, daß ich vor einer Stunde auf Urlaub gekommen sei, und denke, daß er jetzt abtrudeln wird. Aber ich irre mich. Er wird sogar noch wilder:»Das könnte Ihnen wohl so passen, hier Frontsitten einzuführen, was? Das gibt’s nicht! Hier herrscht Gott sei Dank Ordnung!«Er kommandiert:»Zwanzig Schritt zurück, marsch, marsch!«

In mir sitzt die dumpfe Wut. Aber ich kann nichts gegen ihn machen, er läßt mich sofort festnehmen, wenn er will. So spritze ich zurück, gehe vor und zucke sechs Meter vor ihm zu einem zackigen Gruß zusammen, den ich erst wegnehme, als ich sechs Meter hinter ihm bin.

Er ruft mich wieder heran und gibt mir jetzt leutselig bekannt, daß er noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen will. Ich zeige mich stramm dankbar.»Wegtreten!«kommandiert er. Ich knalle die Wendung und ziehe ab.

Der Abend ist mir dadurch verleidet. Ich mache, daß ich nach Hause komme, und werfe die Uniform in die Ecke, das hatte ich sowieso vor. Dann hole ich meinen Zivilanzug aus dem Schrank und ziehe ihn an.

Das ist mir ganz ungewohnt. Der Anzug sitzt ziemlich kurz und knapp, ich bin beim Kommiß gewachsen. Kragen und Krawatte machen mir Schwierigkeiten. Schließlich bindet mir meine Schwester den Knoten. Wie leicht so ein Anzug ist, man hat das Gefühl, als wäre man nur in Unterhosen und Hemd.

Ich betrachte mich im Spiegel. Das ist ein sonderbarer Anblick. Ein sonnenverbrannter, etwas ausgewachsener Konfirmand sieht mich da verwundert an.

Meine Mutter ist froh, daß ich Zivilzeug trage; ich bin ihr dadurch vertrauter. Doch mein Vater hätte lieber, daß ich Uniform anzöge, er möchte so mit mir zu seinen Bekannten gehen.

Aber ich weigere mich.

* * *

Es ist schön, still irgendwo zu sitzen, zum Beispiel in dem Wirtsgarten gegenüber den Kastanien, nahe der Kegelbahn. Die Blätter fallen auf den Tisch und auf die Erde, wenige nur, die ersten. Ich habe ein Glas Bier vor mir stehen, das Trinken hat man beim Militär gelernt. Das Glas ist halb geleert, ich habe also noch einige gute, kühle Schlucke vor mir, und außerdem kann ich ein zweites und ein drittes bestellen, wenn ich will. Es gibt keinen Appell und kein Trommelfeuer, die Kinder des Wirts spielen auf der Kegelbahn, und der Hund legt mir seinen Kopf auf die Knie. Der Himmel ist blau, zwischen dem Laub der Kastanien ragt der grüne Turm der Margaretenkirche auf.