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Nachts sind wir noch einmal jenseits des Kanals. Ich habe beinahe Furcht, der Schmalen, Dunklen zu sagen, daß ich fortgehe und daß, wenn ich zurückkehre, wir sicher irgendwo weiter sind; daß wir uns also nicht wiedersehen werden. Aber sie nickt nur und läßt nicht allzuviel merken. Ich kann das erst gar nicht recht verstehen, dann aber begreife ich. Leer hat schon recht: wäre ich an die Front gegangen, dann hätte es wieder geheißen:»pauvre garçon«; aber ein Urlauber – davon wollen sie nicht viel wissen, das ist nicht so interessant. Mag sie zum Teufel gehen mit ihrem Gesumm und Gerede. Man glaubt an Wunder, und nachher sind es Kommißbrote.

Am nächsten Morgen, nachdem ich entlaust bin, marschiere ich zur Feldbahn. Albert und Kat begleiten mich.

Wir hören an der Haltestelle, daß es wohl noch ein paar Stunden dauern wird bis zur Abfahrt. Die beiden müssen zum Dienst zurück. Wir nehmen Abschied.

»Mach’s gut, Kat; mach’s gut, Albert.«

Sie gehen und winken noch ein paarmal. Ihre Gestalten werden kleiner. Mir ist jeder Schritt, jede Bewegung an ihnen vertraut, ich würde sie weithin schon daran erkennen. Dann sind sie verschwunden.

Ich setze mich auf meinen Tornister und warte.

Plötzlich bin ich von rasender Ungeduld erfüllt, fortzukommen.

* * *

Ich liege auf manchem Bahnhof; ich stehe vor manchem Suppenkessel; ich hocke auf mancher Holzplanke; dann aber wird die Landschaft draußen beklemmend, unheimlich und bekannt. An den abendlichen Fenstern gleitet sie vorüber, mit Dörfern, in denen Strohdächer wie Mützen tief über gekalkte Fachwerkhäuser gezogen sind, mit Kornfeldern, die wie Perlmutter im schrägen Licht schimmern, mit Obstgärten und Scheunen und alten Linden. Die Namen der Stationen werden zu Begriffen, bei denen mein Herz zittert. Der Zug stampft und stampft, ich stehe am Fenster und halte mich an den Rahmenhölzern fest.

Diese Namen umgrenzen meine Jugend.

Flache Wiesen, Felder, Höfe; ein Gespann zieht einsam vor dem Himmel über den Weg, der parallel zum Horizont läuft. Eine Schranke, vor der Bauern warten, Mädchen, die winken, Kinder, die am Bahndamm spielen, Wege, die ins Land führen, glatte Wege, ohne Artillerie.

Es ist Abend, und wenn der Zug nicht stampfte, müßte ich schreien. Die Ebene entfaltet sich groß, in schwachem Blau beginnt in der Ferne die Silhouette der Bergränder aufzusteigen. Ich erkenne die charakteristische Linie des Dolbenberges, diesen gezackten Kamm, der jäh abbricht, wo der Scheitel des Waldes aufhört. Dahinter muß die Stadt kommen.

Aber nun fließt das goldrote Licht verschwimmend über die Welt, der Zug rattert durch eine Kurve und noch eine – und unwirklich, verweht, dunkel stehen die Pappeln darin, weit weg, hintereinander in langer Reihe, gebildet aus Schatten, Licht und Sehnsucht.

Das Feld dreht sich mit ihnen langsam vorbei; der Zug umgeht sie, die Zwischenräume verringern sich, sie werden ein Block, und einen Augenblick sehe ich nur eine einzige; dann schieben sich die anderen wieder hinter der vordersten heraus, und sie sind noch lange allein am Himmel, bis sie von den ersten Häusern verdeckt werden.

Ein Bahnübergang. Ich stehe am Fenster, ich kann mich nicht trennen. Die andern bereiten ihre Sachen zum Aussteigen vor. Ich spreche den Namen der Straße, die wir überqueren, vor mich hin, Bremer Straße – Bremer Straße – Radfahrer, Wagen, Menschen sind da unten; es ist eine graue Straße und eine graue Unterführung; – sie ergreift mich, als wäre sie meine Mutter.

Dann hält der Zug, und der Bahnhof ist da mit Lärm, Rufen und Schildern. Ich packe meinen Tornister auf und mache die Haken fest, ich nehme mein Gewehr in die Hand und stolpere die Tritte hinunter.

Auf dem Perron sehe ich mich um; ich kenne niemand von den Leuten, die da hasten. Eine Rote-Kreuz-Schwester bietet mir etwas zu trinken an. Ich wende mich ab, sie lächelt mich zu albern an, so durchdrungen von ihrer Wichtigkeit: Seht nur, ich gebe einem Soldaten Kaffee. – Sie sagt zu mir»Kamerad«, das hat mir gerade gefehlt. Draußen vor dem Bahnhof aber rauscht der Fluß neben der Straße, er zischt weiß aus den Schleusen der Mühlenbrücke hervor. Der viereckige alte Wartturm steht daran, und vor ihm die große bunte Linde, und dahinter der Abend.

Hier haben wir gesessen, oft – wie lange ist das her -; über diese Brücke sind wir gegangen und haben den kühlen, fauligen Geruch des gestauten Wassers eingeatmet; wir haben uns über die ruhige Flut diesseits der Schleuse gebeugt, in der grüne Schlinggewächse und Algen an den Brückenpfeilern hingen; – und wir haben uns jenseits der Schleuse an heißen Tagen über den spritzenden Schaum gefreut und von unseren Lehrern geschwätzt.

Ich gehe über die Brücke, ich schaue rechts und links; das Wasser ist immer noch voll Algen, und es schießt immer noch in hellem Bogen herab; – im Turmgebäude stehen die Plätterinnen wie damals mit bloßen Armen vor der weißen Wäsche, und die Hitze der Bügeleisen strömt aus den offenen Fenstern. Hunde trotten durch die schmale Straße, vor den Haustüren stehen Menschen und sehen mir nach, wie ich schmutzig und bepackt vorübergehe.

In dieser Konditorei haben wir Eis gegessen und uns im Zigarettenrauchen geübt. In dieser Straße, die an mir vorübergleitet, kenne ich jedes Haus, das Kolonialwarengeschäft, die Drogerie, die Bäckerei. Und dann stehe ich vor der braunen Tür mit der abgegriffenen Klinke, und die Hand wird mir schwer.

Ich öffne sie; die Kühle kommt mir wunderlich entgegen, sie macht meine Augen unsicher.

Unter meinen Stiefeln knarrt die Treppe. Oben klappt eine Tür, jemand blickt über das Geländer. Es ist die Küchentür, die geöffnet wurde, sie backen dort gerade Kartoffelpuffer, das Haus riecht danach, heute ist ja auch Sonnabend, und es wird meine Schwester sein, die sich herunterbeugt. Ich schäme mich einen Augenblick und senke den Kopf, dann nehme ich den Helm ab und sehe hinauf. Ja, es ist meine älteste Schwester.

»Paul!«ruft sie.»Paul -!«

Ich nicke, mein Tornister stößt gegen das Geländer, mein Gewehr ist so schwer.

Sie reißt eine Tür auf und ruft:»Mutter, Mutter, Paul ist da.«Ich kann nicht mehr weitergehen. Mutter, Mutter, Paul ist da. Ich lehne mich an die Wand und umklammere meinen Helm und mein Gewehr. Ich umklammere sie, so fest es geht, aber ich kann keinen Schritt mehr machen, die Treppe verschwimmt vor meinen Augen, ich stoße mir den Kolben auf die Füße und presse zornig die Zähne zusammen, aber ich kann nicht gegen dieses eine Wort an, das meine Schwester gerufen hat, nichts kann dagegen an, ich quäle mich gewaltsam, zu lachen und zu

sprechen, aber ich bringe kein Wort hervor, und so stehe ich auf der Treppe, unglücklich, hilflos, in einem furchtbaren Krampf, und will nicht, und die Tränen laufen mir immer nur so über das Gesicht.

Meine Schwester kommt zurück und fragt:»Was hast du denn?«

Da raffe ich mich zusammen und stolpere zum Vorplatz hinauf. Mein Gewehr lehne ich in eine Ecke, den Tornister stelle ich gegen die Wand, und den Helm packe ich darauf. Auch das Koppel mit den Sachen daran muß fort. Dann sage ich wütend:»So gib doch endlich ein Taschentuch her!«

Sie gibt mir eins aus dem Schrank, und ich wische mir das Gesicht ab. Über mir an der Wand hängt der Glaskasten mit bunten Schmetterlingen, die ich früher gesammelt habe.

Nun höre ich die Stimme meiner Mutter. Sie kommt aus dem Schlafzimmer.

»Ist sie nicht auf?«frage ich meine Schwester.

»Sie ist krank -«, antwortet sie.

Ich gehe hinein zu ihr, gebe ihr die Hand und sage, so ruhig ich kann:»Da bin ich, Mutter.«

Sie liegt im Halbdunkel. Dann fragt sie angstvoll, und ich fühle, wie ihr Blick mich abtastet:»Bist du verwundet?«

»Nein, ich habe Urlaub.«

Meine Mutter ist sehr blaß. Ich scheue mich, Licht zu machen.»Da liege ich nun und weine«, sagt sie,»anstatt mich zu freuen.«