Изменить стиль страницы

Verdammter Lesebuchquatsch! Kennst du Wagner von Baracke 21?«

»Ja.«

»Er ist eine Ruine. Aber er war ein Mann und hatte Mut. Zuviel. Er schlug zurück.

Zwei Jahre lang war er das Entzücken der SS. Weber liebte ihn beinahe. Dann war er fertig. Für immer. Und für was? Wir hätten ihn gut gebrauchen können. Aber er konnte seinen Mut nicht beherrschen. So gab es viele. Wenige sind noch davon da. Und noch weniger, die nicht kaputt sind. Deshalb habe ich dich heute abend festgehalten, als Handke auf Westhof 'rumtrat. Und deshalb habe ich geantwortet, als er fragte, was wir sind. Verstehst du das endlich?«»Du glaubst, daß Westhof -«»Es ist egal. Er ist tot -«Bucher schwieg. Er sah 509 jetzt deutlicher. Der Nebel hatte sich etwas gehoben, und an einer Stelle tropfte Mondlicht hindurch. 509 hatte sich aufgerichtet. Sein Gesicht war schwarz und blau und grün von Blutergüssen. Bucher erinnerte sich plötzlich an alte Geschichten über ihn und Weber, die er gehört hatte. Er mußte selbst einmal einer der Leute gewesen sein, von denen er sprach.»Hör zu«, sagte 509.»Und höre gut zu. Es ist eine billige Romanphrase, daß Geist nicht zu brechen sei. Ich habe gute Leute gekannt, die nichts mehr waren als heulende Tiere. Fast jeden Widerstand kann man brechen; man braucht nur genügend Zeit und Gelegenheit dazu. Das haben die da drüben -«, er machte eine Gebärde zu den SS-Kasernen hinüber,»die haben es ganz gut gewußt. Und sie sind immer dahinter her gewesen. Bei Widerstand kommt es nur darauf an, was man damit erreicht; nicht wie es aussieht. Sinnloser Mut ist sicherer Selbstmord. Unser bißchen Widerstand aber ist das einzige, was wir noch haben. Wir müssen es verstecken, damit sie es nicht finden – es nur in äußerster Not gebrauchen -, so wie wir es bei Weber getan haben. Sonst -«Das Mondlicht hatte den Körper Westhofs erreicht. Es huschte über sein Gesicht und seinen Nacken.»Ein paar von uns müssen übrigbleiben«, flüsterte 509.»Für später. Dieses alles darf nicht umsonst gewesen sein. Ein paar, die nicht kaputt sind.«Er lehnte sich erschöpft zurück. Denken erschöpfte ebenso wie Laufen. Meistens konnte man es nicht vor Hunger und Schwäche; aber manchmal kam dazwischen eine seltsame Leichtigkeit, alles war überdeutlich, und man konnte kurze Zeit weit sehen – bis der Nebel der Müdigkeit alles wieder überkroch.»Ein paar, die nicht kaputt sind und die nicht vergessen wollen«, sagte 509. Er sah Bucher an. Er ist über zwanzig Jahre jünger als ich, dachte er. Er kann noch viel tun. Er ist noch nicht kaputt. Und ich? Die Zeit, dachte er, plötzlich verzweifelt. Sie fraß und fraß. Man würde es erst merken, wenn dieses hier vorbei war. Man würde erst wirklich merken, ob man kaputt war, wenn man wieder neu anfangen wollte draußen. Diese zehn Jahre im Lager zählten für jeden doppelt und dreifach. Wer hatte noch Kraft genug? Und es würde viel Kraft gebraucht werden.»Man wird vor uns nicht auf die Knie fallen, wenn wir hier herauskommen«, sagte er.»Man wird alles ableugnen und vergessen wollen. Uns auch. Und viele von uns werden es auch vergessen wollen.«»Ich werde es nicht vergessen«, erwiderte Bucher finster.»Dieses nicht und alles nicht.«»Gut.«Die Welle der Erschöpfung kam stärker. 509 schloß die Augen, öffnete sie aber gleich wieder. Da war noch etwas, das er aussprechen mußte, bevor er es wieder verlor. Bucher sollte es wissen. Vielleicht war er der einzige, der durchkommen würde. Es war wichtig, daß er es wußte.»Handke ist kein Nazi«, sagte er mit Mühe.»Er ist ein Gefangener wie wir. Draußen hätte er wahrscheinlich nie einen Menschen getötet. Hier tut er es, weil er die Macht dazu hat. Er weiß, daß es uns nichts nützt, wenn wir uns beschweren. Er wird gedeckt. Er hat keine Verantwortung. Das ist es. Macht und keine Verantwortung – zu viel Macht, in falschen Händen, zu viel Macht überhaupt – in irgendeiner Hand -, verstehst du -«»Ja«, sagte Bucher. 509 nickte.»Das und das andere – die Trägheit des Herzens – die Angst – die Drückebergerei des Gewissens – das ist unser Elend – darüber habe ich heute – den ganzen Abend nachgedacht -«Die Müdigkeit war jetzt wie eine schwarze Wolke, die lähmend näher 509 zog ein Stück Brot aus der Tasche.»Hier – ich brauche das nicht – habe mein Fleisch gehabt – gib es Ruth -«Bucher sah ihn an und rührte sich nicht.»Habe alles gehört vorhin drüben«sagte 509 mit schwerer Stimme, schon voll von Niedersinken.»Gib es ihr, es ist -«sein Kopf fiel nach vorn, aber er hob ihn noch einmal, und der von Blutergüssen bunte Schädel leuchtete plötzlich -»auch wichtig – was zu geben -«Bucher nahm das Brot und ging zu dem Zaun hinüber, der das Frauenlager trennte. Der Nebel schwebte jetzt mannshoch. Darunter war alles klar. Es wirkte gespenstisch, als stolperten Muselmänner ohne Köpfe zur Latrine. Nach einiger Zeit kam Ruth. Auch sie hatte keinen Kopf.»Bück dich«, flüsterte Bucher. Sie hockten beide auf dem Boden. Bucher warf das Brot hinüber. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, daß er Fleisch für sie gehabt hatte. Er tat es nicht.»Ruth«, sagte er.»Ich glaube, wir kommen hier heraus -«Sie konnte nicht antworten. Sie hatte den Mund voll Brot. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie blickte ihn an.»Ich glaube es jetzt sicher«, sagte Bucher. Er wußte nicht, warum er es plötzlich glaubte. Es hatte etwas mit 509 zu tun und mit dem, was er gesagt hatte. Er ging zurück. 509 schlief fest. Sein Kopf lag dicht neben dem Kopf Westhofs. Beide Gesichter waren voll von Blutergüssen, und Bucher konnte fast nicht unterscheiden, wer von ihnen noch atmete. Er weckte 509 nicht. Er wußte, daß er seit zwei Tagen hier draußen auf Lewinsky wartete. Die Nacht war nicht allzu kalt; aber Bucher streifte trotzdem Westhof und zwei anderen Toten die Jacken ab und deckte 509 damit zu.

IX

Der nächste Luftangriff kam zwei Tage später. Die Sirenen begannen um acht Uhr abends zu heulen. Kurz darauf fielen die ersten Bomben. Sie fielen rasch wie ein Schauer, und die Explosionen übertönten das Flakfeuer nur wenig. Erst zum Schluß kamen die schweren Kaliber. Die Mellener Zeitung brachte keine neue Ausgabe mehr heraus. Sie brannte. Die Maschinen schmolzen. Die Papierrollen knatterten in den schwarzen Himmel, und langsam stürzte das Haus zusammen. Hunderttausend Mark, dachte Neubauer. Da verbrennen hunderttausend Mark, die mir gehören. Hunderttausend Mark. Ich habe nicht gewußt, daß so viel Geld so leicht brennen kann. Diese Schweine! Hätte ich es gewußt, ich hätte mich an einem Bergwerk beteiligt. Aber Bergwerke brennen auch. Werden ebenso gebombt. Sind auch nicht mehr sicher. Das Ruhrgebiet soll verwüstet sein. Was ist noch sicher? Seine Uniform war grau von Papierruß. Seine Augen waren rot vom Rauch. Der Zigarrenladen gegenüber, der ihm auch gehört hatte, war eine Ruine. Gestern noch eine Goldgrube, heute ein Aschenhaufen. Noch einmal dreißigtausend Mark. Vielleicht sogar vierzigtausend. Man konnte viel Geld verlieren an einem Abend. Die Partei? Jeder dachte an sich selbst. Die Versicherung? Die ging pleite, wenn sie alles auszahlen mußte, was heute abend verwüstet worden war. Außerdem hatte er alles zu niedrig versichert. Sparsamkeit am falschen Platze. Ob Bombenschäden anerkannt werden würden, war dazu noch unwahrscheinlich. Nach dem Krieg würde die große Wiedergutmachung kommen, so hieß es immer, nach dem Sieg; der Gegner müsse alles bezahlen. Hatte sich was damit! Darauf konnte man wahrscheinlich lange warten. Und jetzt war es zu spät, etwas Neues anzufangen. Wozu auch? Was würde morgen brennen? Er starrte auf die schwarzen, zerplatzten Mauern des Ladens.»Deutsche Wacht«, fünftausend»Deutsche Wacht«-Zigarren waren mitverbrannt. Schön. Das war egal. Aber wozu hatte er nun damals den Sturmführer Freiberg angezeigt? Pflicht? Quatsch, Pflicht! Da brannte seine Pflicht. Verbrannte. Hundertdreißigtausend Mark zusammen. Noch ein solches Feuer, ein paar Bomben in Josef Blanks Geschäftshaus, ein paar in seinen Garten und in sein eigenes Wohnhaus – morgen konnte das schon sein -, und er war wieder da, wo er angefangen hatte. Oder nicht einmal das! Älter! Schlechter dran! Denn – lautlos kam es plötzlich über ihn, etwas, das immer schon irgendwo gelauert hatte, in den Ecken, verscheucht, weggetrieben, nicht durchgelassen, solange sein eigener Besitz unangetastet war – der Zweifel, die Angst, die bisher durch eine stärkere Gegenangst in Schach gehalten worden waren – plötzlich brachen sie aus ihren Käfigen und starrten ihn an, sie saßen in den Trümmern des Zigarrenladens, sie ritten auf den Ruinen des Zeitungsgebäudes, sie grinsten ihn an, und ihre Klauen drohten in die Zukunft. Neubauers dicker roter Nacken wurde naß, unsicher trat er zurück und sah einen Augenblick nichts mehr und wußte es und wollte es sich trotzdem nicht eingestehen: daß der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte.»Nein«, sagte er laut.»Nein, nein – es muß noch – der Führer – ein Wunder – trotz allem natürlich -«Er sah sich um. Da war niemand. Nicht einmal jemand zum Löschen. Selma Neubauer schwieg endlich. Ihr Gesicht war verschwollen, der seidene französische Morgenrock war voll von Tränenspuren, und die dicken Hände bebten.»Sie kommen diese Nacht nicht wieder«, sagte Neubauer ohne Überzeugung.»Die ganze Stadt brennt ja. Was sollen sie da noch bombardieren?«»Dein Haus, dein Geschäftsgebäude. Deinen Garten. Die stehen doch noch, wie?«Neubauer bezwang seinen Ärger und die jähe Angst, daß es so sein könnte.»Blödsinn! Deshalb kommen sie nicht extra.«»Andere Häuser. Andere Läden. Andere Fabriken. Es stehen noch genug.«»Selma -«Sie unterbrach ihn.»Du kannst sagen, was du willst! Ich komme 'rauf!«Ihr Gesicht rötete sich wieder.»Ich komme 'rauf zu dir ins Lager, und wenn ich bei den Gefangenen schlafen muß! Ich bleibe nicht hier in der Stadt! In dieser Rattenfalle! Ich will nicht umkommen! Dir ist das natürlich egal, wenn du nur sicher bist. Weit weg vom Schuß! Wie immer! Wir können es ja ausfressen! So warst du immer!«Neubauer blickte sie beleidigt an.»Ich war nie so. Und du weißt es! Sieh dir deine Kleider an! Deine Schuhe! Deine Morgenröcke! Alles aus Paris! Wer hat sie dir besorgt? Ich! Deine Spitzen! Das Feinste aus Belgien. Ich habe sie eingehandelt für dich. Deinen Pelzmantel! Die Pelzdecke! Ich habe sie dir aus Warschau kommen lassen. Sieh dir deinen Vorratskeller an. Dein Haus! Ich habe gut für dich gesorgt!«»Du hast eine Sache vergessen. Einen Sarg. Du kannst ihn jetzt noch rasch besorgen. Särge werden nicht billig sein morgen früh. Es gibt sowieso kaum noch welche in Deutschland. Aber du kannst ja einen machen lassen in deinem Lager oben! Du hast ja genügend Leute dafür.«»So? Das ist also der Dank! Der Dank für alles, was ich riskiert habe. Das, ist der Dank!«Selma hörte nicht auf Neubauer.»Ich will nicht verbrennen! Ich will nicht in Stücke gerissen werden!«Sie wandte sich an ihre Tochter.»Freya! Du hörst deinen Vater! Deinen leiblichen Vater! Alles, was wir wollen, ist, nachts in seinem Haus da oben schlafen. Nichts weiter. Unser Leben retten. Er weigert sich. Die Partei. Was wird Dietz sagen? Was sagt Dietz zu den Bomben?