321

Wie man angreifen soll. — Die Gründe, um derentwillen man an etwas glaubt oder nicht glaubt, sind bei den allerseltensten Menschen überhaupt so stark, als sie sein können . Für gewöhnlich hat man, um den Glauben an etwas zu erschüttern, durchaus nicht nötig, ohne weiteres das schwerste Geschütz des Angriffs vorzufahren; bei vielen führt es schon zum Ziele, wenn man den Angriff mit etwas Lärm macht: so daß oft Knallerbsen genügen. Gegen sehr eitle Personen reicht die Miene des allerschwersten Angriffs aus: sie sehen sich sehr ernst genommen — und geben gern nach.

322

Tod. — Durch die sichere Aussicht auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein — und nun habt ihr wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gift-Tropfen gemacht, durch den das ganze Leben widerlich wird!

323

Reue. — Niemals der Reue Raum geben, sondern sich sofort sagen: dies hieße ja der ersten Dummheit eine zweite zugesellen. — Hat man Schaden gestiftet, so sinne man darauf, Gutes zu stiften. Wird man wegen seiner Handlungen gestraft, dann ertrage man die Strafe mit der Empfindung, damit schon etwas Gutes zu stiften, man schreckt die anderen ab, in die gleiche Torheit zu verfallen. Jeder gestrafte Übeltäter darf sich als Wohltäter der Menschheit fühlen.

324

Zum Denker werden. — Wie kann jemand zum Denker werden, wenn er nicht mindestens den dritten Teil jeden Tages ohne Leidenschaften, Menschen und Bücher verbringt?

325

Das beste Heilmittel. — Etwas Gesundheit ab und zu ist das beste Heilmittel des Kranken.

326

Nicht anrühren! — Es gibt schreckliche Menschen, welche ein Problem, anstatt es zu lösen, für alle, welche sich mit ihm abgeben wollen, verfitzen und schwerer lösbar machen. Wer es nicht versteht, den Nagel auf den Kopf zu treffen, soll ja gebeten sein, ihn gar nicht zu treffen.

327

Die vergessene Natur. — Wir sprechen von Natur und vergessen uns dabei: wir selber sind Natur, quand memê — . Folglich ist Natur etwas ganz anderes als das, was wir beim Nennen ihres Namens empfinden.

328

Tiefe und Langweiligkeit. — Bei tiefen Menschen wie bei tiefen Brunnen dauert es lange, bis etwas, das in sie fällt, ihren Grund erreicht. Die Zuschauer, welche gewöhnlich nicht lange genug warten, halten solche Menschen leicht für unbeweglich und hart — oder auch für langweilig.

329

Wann es Zeit ist, sich Treue zu geloben. — Man verläuft sich mitunter in eine geistige Richtung, welcher unsere Begabung widerspricht; eine Zeitlang kämpft man heroisch wider die Flut und den Wind an, im Grunde gegen sich selbst: man wird müde, keucht; was man vollbringt, macht einem keine rechte Freude, man meint zu viel bei diesen Erfolgen eingebüßt zu haben. Ja, man verzweifelt an seiner Fruchtbarkeit, an seiner Zukunft, mitten im Siege vielleicht. Endlich, endlich kehrt man um — und jetzt weht der Wind in unser Segel und treibt uns in unser Fahrwasser. Welches Glück! Wie siegesgewiß fühlen wir uns! Jetzt erst wissen wir, was wir sind und was wir wollen, jetzt geloben wir uns Treue und dürfen es — als Wissende.

330

Wetterpropheten. — Wie die Wolken uns verraten, wohin hoch über uns die Winde laufen, so sind die leichtesten und freiesten Geister in ihren Richtungen vorausverkündend für das Wetter, das kommen wird. Der Wind im Tale und die Meinungen des Marktes von heute bedeuten nichts für das, was kommt, sondern nur für das, was war.

331

Stetige Beschleunigung. — Jene Personen, welche langsam beginnen und schwer in einer Sache heimisch werden, haben nachher mitunter die Eigenschaft der stetigen Beschleunigung, — so daß zuletzt niemand weiß, wohin der Strom sie noch reißen kann.

332

Die guten Drei. — Größe, Ruhe, Sonnenlicht- diese Drei umfassen alles, was ein Denker wünscht und auch von sich fordert: seine Hoffnungen und Pflichten, seine Ansprüche im Intellektuellen und Moralischen, sogar in der täglichen Lebensweise und selbst im Landschaftlichen seines Wohnsitzes. Ihnen entsprechen einmal erhebende Gedanken, sodann beruhigende , drittens aufhellende — viertens aber Gedanken, welche an allen drei Eigenschaften Anteil haben, in denen alles Irdische zur Verklärung kommt: es ist das Reich, wo die große Dreifaltigkeit der Freude herrscht.

333

Für die» Wahrheit «sterben. — Wir würden uns für unsere Meinungen nicht verbrennen lassen: wir sind ihrer nicht so sicher. Aber vielleicht dafür, daß wir unsere Meinungen haben dürfen und ändern dürfen.

334

Seine Taxe haben. — Wenn man gerade so viel gelten will, als man ist, muß man etwas sein, das seine Taxe hat. Aber nur das Gewöhnliche hat eine Taxe. Somit ist jenes Verlangen entweder die Folge einsichtiger Bescheidenheit — oder dummer Unbescheidenheit.

335

Moral für Häuserbauer. — Man muß die Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist.

336

Sophokleismus. — Wer hat mehr Wasser in den Wein gegossen als die Griechen! Nüchternheit und Grazie verbunden — das war das Adels-Vorrecht des Atheners zur Zeit des Sophokles und nach ihm. Mache es nach, wer da kann! Im Leben und Schaffen!

337

Das Heroische. — Das Heroische besteht darin, daß man Großes tut (oder etwas in großer Weise nicht tut), ohne sich im Wettkampfe mit anderen, vor anderen zu fühlen. Der Heros trägt die Einöde und den heiligen unbetretbaren Grenzbezirk immer mit sich, wohin er auch gehe.

338

Doppelgängerei der Natur. — In mancher Natur-Gegend entdecken wir uns selber wieder, mit angenehmem Grausen; es ist die schönste Doppelgängerei. — Wie glücklich muß der sein können, welcher jene Empfindung gerade hier hat, in dieser beständigen sonnigen Oktoberluft, in diesem schalkhaft glücklichen Spielen des Windzuges von Früh bis Abend, in dieser reinsten Helle und mäßigsten Kühle, in dem gesamten anmutig ernsten Hügel-, Seen- und Wald-Charakter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die Schrecknisse des ewigen Schnees hingelagert hat — hier, wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimat aller silbernen Farbentöne der Natur zu sein scheint: wie glücklich der, welcher sagen kann:»es gibt gewiß viel Größeres und Schöneres in der Natur, dies aber ist mir innig und vertraut, blutsverwandt, ja noch mehr.»

339

Leutseligkeit des Weisen. — Der Weise wird unwillkürlich mit den anderen Menschen leutselig umgehen wie ein Fürst und sie, trotz aller Verschiedenheit der Begabung, des Standes und der Gesittung, leicht als gleichartig behandeln: was man, sobald es bemerkt wird, ihm sehr übel nimmt.

340

Gold. — Alles, was Gold ist, glänzt nicht. Die sanfte Strahlung ist dem edelsten Metalle zu eigen.

341

Rad und Hemmschuh. — Das Rad und der Hemmschuh haben verschiedene Pflichten, aber auch eine gleiche: einander wehe zu tun.

342

Störungen des Denkers. — Auf alles, was den Denker in seinen Gedanken unterbricht (stört, wie man sagt), muß er friedfertig hinschauen, wie auf ein neues Modell, das zur Tür hereintritt, um sich dem Künstler anzubieten. Die Unterbrechungen sind die Raben, welche dem Einsamen Speise bringen.

343

Viel Geist haben. — Viel Geist haben erhält jung : aber man muß es ertragen, damit gerade für älter zu gelten, als man ist. Denn die Menschen lesen die Schriftzüge des Geistes ab als Spuren der Lebenserfahrung , das heißt des Viel- und Schlimm-gelebt -habens, des Leidens, Irrens, Bereuens. Also: man gilt ihnen für älter sowohl als für schlechter , als man ist, wenn man viel Geist hat und zeigt.

344

Wie man siegen muß. — Man soll nicht siegen wollen, wenn man nur die Aussicht hat, um eines Haa- res Breite seinen Gegner zu überholen. Der gute Sieg muß den Besiegten freudig stimmen, er muß etwas Göttliches haben, welches die Beschämung erspart.

345

Wahn der überlegenen Geister. — Die überlegenen Geister haben Mühe, sich von einem Wahne frei zu machen: sie bilden sich nämlich ein, daß sie bei den Mittelmäßigen Neid erregen und als Ausnahme empfunden werden. Tatsächlich aber werden sie als das empfunden, was überflüssig ist und was man, wenn es fehlte, nicht entbehren würde.

346

Forderung der Reinlichkeit. — Daß man seine Meinungen wechselt, ist für die einen Naturen ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, daß man seine Kleider wechselt: für andere Naturen aber nur eine Forderung ihrer Eitelkeit.

347

Auch eines Heros würdig. — Hier ist ein Heros, der nichts getan hat als den Baum geschüttelt, sobald die Früchte reif waren. Dünkt euch dies zu wenig? So seht euch den Baum erst an, den er schüttelte.

348

Woran die Weisheit zu messen ist. — Der Zuwachs an Weisheit läßt sich genau nach der Abnahme an Galle bemessen.

349

Den Irrtum unangenehm sagen. — Es ist nicht nach jedermanns Geschmack, daß die Wahrheit angenehm gesagt werde. Möge aber wenigstens niemand glauben, daß der Irrtum zur Wahrheit werde, wenn man ihn unangenehm sage.

350

Die goldene Losung. — Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Tier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Tiere sind. Nun aber leidet er noch daran, daß er so lange seine Ketten trug, daß es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: — diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrtümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste große Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Tieren. — Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen, und haben dabei die höchste Vorsicht nötig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, daß er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen.  — Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten großen und rührenden Wortes, welches allen galt, und das über der gesamten Menschheit stehengeblieben ist, als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem jeder zugrunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, — an dem das Christentum zugrunde ging. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit , daß es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten:»Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.«— Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen .