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Das klang wie Abschiednehmen, und wirklich war es der Vorgeschmack des Abschieds. Wie Goldmund vor seinem Freunde stand und ihn betrachtete, das entschlossene Gesicht, das auf Ziele gerichtete Auge, da fühlte er untrüglich, daß sie beide jetzt nicht mehr Brüder und Kameraden und ihresgleichen waren, daß ihre Wege sich schon getrennt hatten. Dieser hier, der vor ihm stand, war kein Träumer und wartete auch nicht auf irgendwelche Zurufe des Schicksals; er war ein Mönch, er hatte sich verschrieben, er gehörte einer festen Ordnung und Pflicht, war ein Diener und Soldat des Ordens, der Kirche, des Geistes. Er selbst aber, dies war ihm heute klargeworden, gehörte nicht hierher, er war ohne Heimat, eine unbekannte Welt wartete auf ihn. So war es einst auch seiner Mutter gegangen. Sie hatte Haus und Hof, Mann und Kind, Gemeinschaft und Ordnung, Pflicht und Ehre verlassen und war ins Ungewisse hinausgegangen, war wohl längst darin untergegangen. Sie hatte kein Ziel gehabt, wie auch er keines hatte. Ziele zu haben, das war anderen gegeben, ihm nicht. O wie gut hatte Narziß dies alles schon vor langer Zeit gesehen, wie recht hatte er gehabt! Schon bald nach diesem Tage war Narziß wie verschwunden, er schien plötzlich unsichtbar geworden zu sein. Ein anderer Lehrer gab seine Lektionen, sein Lesepult m der Bibliothek blieb leer. Er war noch da, er war nicht völlig unsichtbar, man konnte ihn zuweilen den Kreuzgang durchschreiten sehen, konnte ihn manchmal in einer der Kapellen murmeln hören, auf dem Steinboden kniend; man wußte, daß er die große Übung angetreten hatte, daß er fastete und dreimal m der Nacht zu Exerzitien sich erhob. Er war noch da und war doch in eine andere Welt hinübergegangen; man konnte ihn sehen, selten genug, konnte ihn aber nicht erreichen, nichts mit ihm gemein haben, nicht mit ihm sprechen. Goldmund wußte: Narziß würde wieder erscheinen, er würde sein Arbeitspult, seinen Stuhl im Refektorium wieder einnehmen, würde wieder sprechen – aber von dem Gewesenen würde nichts wiederkommen, Narziß würde nicht wieder ihm gehören. Indem er es bedachte, wurde auch das ihm klar, daß es einzig Narziß gewesen war, durch welchen ihm Kloster und Mönchtum, Grammatik und Logik, Studium und Geist wichtig und lieb geworden war. Sein Vorbild hatte ihn gelockt, wie er zu werden, war sein Ideal gewesen. Wohl, auch der Abt war noch da, auch ihn hatte er verehrt, auch ihn geliebt und ein hohes Vorbild in ihm gesehen. Aber die andern, die Lehrer, die Mitschüler, der Schlafsaal, der Speisesaal, die Schule, die Übungen, die Gottesdienste, das ganze Kloster – ohne Narziß ging es ihn nichts mehr an. Was tat er noch hier? Er wartete, er stand unterm Dach des Klosters wie ein unentschlossener Wanderer bei Regen unter irgendeinem Dach oder Baum stehenbleibt, bloß um zu warten, bloß als Gast, bloß aus Angst vor der Unwirtlichkeit der Fremde.

Goldmunds Leben in dieser Zeit war nur noch ein Zögern und Abschiednehmen. Alle Orte suchte er auf, die ihm lieb oder bedeutsam geworden waren. Mit wunderlicher Befremdung stellte er fest, wie wenige Menschen und Gesichter da waren, von welchen der Abschied ihm schwerfallen würde. Da war Narziß und der alte Abt Daniel und auch noch der gute liebe Pater Anselm und auch etwa noch der freundliche Pförtner und der lebenslustige Nachbar Müller – aber auch diese waren schon beinahe unwirklich geworden. Schwerer als von ihnen würde er Abschied nehmen von der großen steinernen Madonna in der Kapelle, von den Aposteln des Portals. Lange stand er vor ihnen, auch vor den schönen Schnitzereien des Chorgestühls, vor dem Brunnen im Kreuzgang, vor der Säule mit den drei Tierköpfen, lehnte sich im Hof an die Linden, an den Kastanienbaum. Dies alles würde ihm einmal eine Erinnerung sein, ein kleines Bilderbuch in seinem Herzen. Schon jetzt, da er noch mitten drin war, begann es ihm zu entgleiten, verlor an Wirklichkeit, wandelte sich gespenstisch in etwas Gewesenes. Mit Pater Anselm, der ihn gern um sich hatte, ging er auf die Kräutersuche, beim Klostermüller sah er den Knechten zu und ließ sich je und je zu Wein und gebackenen Fischen einladen; aber alles war schon fremd und halb wie Erinnerung. So wie drüben in der Kirchendämmerung und der Bußzelle sein Freund Narziß zwar wandelte und lebte, für ihn aber ein Schatten geworden war, so stand alles rings um ihn entwirklicht, atmete Herbst und Vergänglichkeit.

Wirklich und lebendig war nichts mehr als das Leben in ihm innen, das bange Schlagen des Herzens, der wehe Stachel der Sehnsucht, die Freuden und Ängste seiner Träume. Ihnen gehörte er an und gab sich hin. Mitten im Lesen oder Lernen, mitten zwischen den Schulkameraden konnte er in sich versinken und alles vergessen, nur den Strömen und Stimmen des Innern hingegeben, die ihn hinwegzogen, in tiefe Brunnen voll dunkler Melodie, in farbige Abgründe voll märchenhafter Erlebnisse, deren Klänge alle wie die Stimme der Mutter klangen, deren tausend Augen alle die Augen der Mutter waren.