Denn Schwarz greift – siehst du, Jean, da braucht er gar nicht lange nachzudenken, jetzt geht es Schlag auf Schlag! – Schwarz greift zur… – und da bleibt allen für einen Moment das Herz stehen, denn Schwarz, wider alle offenbare Vernunft, greift nicht zur Dame, um sie dem lächerlichen Angriff des Bauern zu entziehen, sondern Schwarz führt seinen vorgefaßten Plan aus und setzt den Läufer auf G7.

Sie sehen ihn fassungslos an. Sie treten alle einen halben Schritt zurück wie aus Ehrfurcht und sehen ihn fassungslos an: Er opfert seine Dame und stellt den Läufer auf G7! Und er tut es in vollem Bewußtsein und unbeweglichen Gesichts, ruhig und überlegen dasitzend, blaß, blasiert und schön. Da wird ihnen feucht in den Augen und warm ums Herz. Er spielt so, wie sie spielen wollen und nie zu spielen wagen. Sie begreifen nicht, warum er so spielt wie er spielt, und es ist ihnen auch egal, ja sie ahnen womöglich, daß er selbstmörderisch riskant spielt. Aber sie wollen trotzdem so spielen können wie er: großartig, siegesgewiß, napoleonesk. Nicht wie Jean, dessen ängstliches zögerndes Spiel sie begreifen, da sie selber nicht anders spielen als er, nur weniger gut; Jeans Spiel ist vernünftig. Es ist ordentlich und regelrecht und enervierend fad. Der Schwarze dagegen schafft mit jedem Zug Wunder. Er bietet die eigene Dame zum Opfer, nur um seinen Läufer auf G7 zu stellen, wann hätte man so etwas schon einmal gesehen? Sie stehen zutiefst gerührt vor dieser Tat. Jetzt kann er spielen, was er will, sie werden ihm Zug für Zug folgen bis zum Ende, mag es strahlend oder bitter sein. Er ist jetzt ihr Held, und sie lieben ihn.

Und selbst Jean, der Gegner, der nüchterne Spieler, als er mit bebender Hand den Bauern zum Damenschlag führt, zögert wie aus Scheu vor dem strahlenden Helden und spricht, sich leise entschuldigend, bittend fast, daß man ihn zu dieser Tat nicht zwingen möge: »Wenn Sie sie mir geben, Monsieur… ich muß ja… ich muß…«, und wirft einen flehenden Blick zu seinem Gegner. Der sitzt mit steinerner Miene und antwortet nicht. Und der Alte, zerknirscht, zerschmettert, schlägt.

Einen Augenblick später bietet der schwarze Läufer Schach. Schach dem weißen König! Die Rührung der Zuschauer schlägt um in Begeisterung. Schon ist der Damenverlust vergessen. Wie ein Mann stehen sie hinter dem jungen Herausforderer und seinem Läufer. Schach dem König! So hätten sie auch gespielt! Ganz genau so, und nicht anders! Schach! – Eine kühle Analyse der Stellung würde ihnen freilich sagen, daß Weiß eine Fülle von möglichen Zügen zu seiner Verteidigung hat, aber das interessiert niemand mehr. Sie wollen nicht mehr nüchtern analysieren, sie wollen jetzt nur noch glänzende Taten sehen, geniale Attacken und mächtige Streiche, die den Gegner erledigen. Das Spiel – dieses Spiel – hat für sie nur noch den Sinn und das eine Interesse: den jungen Fremden siegen und den alten Matador am Boden vernichtet zu sehen.

Jean zögert und überlegt. Er weiß, daß keiner mehr einen Sou auf ihn setzen würde. Aber er weiß nicht, warum. Er versteht nicht, daß die andern – doch alle erfahrene Schachspieler – die Stärke und Sicherheit seiner Stellung nicht erkennen. Dazu besitzt er ein Übergewicht von einer Dame und drei Bauern. Wie können sie glauben, daß er verliert? Er kann nicht verlieren! – Oder doch? Täuscht er sich? Läßt seine Aufmerksamkeit nach? Sehen die anderen mehr als er? Er wird unsicher. Vielleicht ist schon die tödliche Falle gestellt, in die er beim nächsten Zug tappen soll. Wo ist die Falle? Er muß sie vermeiden. Er muß sich herauswinden. Er muß auf jeden Fall seine Haut so teuer wie möglich verkaufen…

Und noch bedächtiger, noch zögernder, noch ängstlicher an die Regeln der Kunst sich klammernd, erwägt und berechnet Jean und entschließt sich dann, einen Springer so abzuziehen und zwischen König und Läufer zu stellen, daß nun seinerseits der schwarze Läufer im Schlagbereich der weißen Dame steht.

Die Antwort von Schwarz kommt ohne Verzögerung. Schwarz bricht den gestoppten Angriff nicht ab, sondern führt Verstärkung heran: sein Pferd deckt den angegriffenen Läufer. Das Publikum jubelt. Und nun geht es Schlag auf Schlag: Weiß holt einen Läufer zu Hilfe, Schwarz wirft einen Turm nach vorn, Weiß bringt sein zweites Pferd, Schwarz seinen zweiten Turm. Beide Seiten massieren ihre Kräfte um das Feld, auf dem der schwarze Läufer steht, das Feld, auf dem der Läufer ohnehin nichts mehr auszurichten hätte, ist zum Zentrum der Schlacht geworden – warum, man weiß es nicht, Schwarz will es so. Und jeder Zug, mit dem Schwarz weiter eskaliert und einen neuen Offizier heranführt, wird jetzt vom Publikum ganz offen und laut bejubelt, jeder Zug, mit dem Weiß sich notgedrungen verteidigt, mit unverhohlenem Murren quittiert. Und dann eröffnet Schwarz, wiederum gegen alle Regeln der Kunst, einen mörderischen Abtauschreigen. Für einen an Kräften unterlegenen Spieler – so sagt es das Lehrbuch – kann ein solch rigoroses Gemetzel schwerlich von Vorteil sein. Doch Schwarz beginnt es trotzdem, und das Publikum jauchzt. Eine solche Schlachterei hat man noch nicht erlebt. Rücksichtslos mäht Schwarz alles nieder, was sich in Schlagweite befindet, achtet die eignen Verluste für nichts, reihenweise sinken die Bauern, sinken unter frenetischem Beifall des kundigen Publikums Pferde, Türme und Läufer…

Nach sieben, acht Zügen und Gegenzügen ist das Schachbrett verödet. Die Bilanz der Schlacht sieht verheerend für Schwarz aus: Es besitzt nur noch drei Figuren, nämlich den König, einen Turm, einen einzigen Bauern. Weiß hingegen hat neben König und Turm seine Dame und vier Bauern aus dem Armageddon gerettet. Für jeden verständigen Betrachter der Szene konnte nun wirklich kein Zweifel mehr darüber herrschen, wer die Partie gewinnen würde. Und in der Tat… Zweifel herrschen nicht. Denn nach wie vor – den noch von kampfeslüsterner Erregung glühenden Gesichtern ist es anzusehen – sind die Zuschauer auch im Angesichte des Desasters davon überzeugt, daß ihr Mann siegen wird! Noch immer würden sie jede Summe auf ihn setzen und die bloße Andeutung einer möglichen Niederlage wütend zurückweisen.

Und auch der junge Mann scheint völlig unbeeindruckt von der katastrophalen Lage. Er ist am Zug. Ruhig nimmt er seinen Turm und rückt ihn um ein Feld nach rechts. Und wieder wird es still in der Runde. Und tatsächlich treten jetzt den erwachsenen Männern die Tränen in die Augen vor Hingebung an dies Genie von einem Spieler. Es ist wie am Ende der Schlacht von Waterloo, als der Kaiser die Leibgarde in das längst verlorene Gefecht schickt: Mit seinem letzten Offizier geht Schwarz erneut zum Angriff über! 

Weiß hat nämlich seinen König auf der ersten Linie auf G1 postiert und drei Bauern auf der zweiten Linie vor ihm stehen, so daß der König eingeklemmt und daher tödlich bedroht stünde, gelänge es Schwarz, wie es dies offenbar vorhat, im nächsten Zug mit seinem Turm auf die erste Linie voranzustoßen.

Nun ist diese Möglichkeit, einen Gegner schachmatt zu setzen, wohl die bekannteste und banalste, fast möchte man sagen, die kindischste aller öglichkeiten im Schachspiel, beruht ihr Erfolg doch allein darauf, daß der Gegner die offenkundige Gefahr nicht erkennt und keine Gegenmaßnahmen einleitet, deren wirksamste darin besteht, die Reihe der Bauern zu öffnen und so dem König Ausweiche zu verschaffen; einen erfahrenen Spieler, ja sogar einen fortgeschrittenen Anfänger mit diesem Taschenspielertrick matt setzen zu wollen ist mehr als frivol. Jedoch das hingerissene Publikum bewundert den Zug des Helden, als sähe es ihn heute zum ersten Mal. Sie schütteln den Kopf vor grenzenlosem Erstaunen. Freilich, sie wissen, daß Weiß jetzt einen kapitalen Fehler machen muß, damit Schwarz zum Erfolg kommt. Aber sie glauben daran. Sie glauben wirklich daran, daß Jean, der Lokalmatador, der sie alle geschlagen hat, der sich nie eine Schwäche erlaubt, daß Jean diesen Anfängerfehler begeht. Und mehr noch: Sie hoffen es. Sie ersehnen es. Sie beten im Innern dafür, inbrünstiglich, daß Jean diesen Fehler begehen möge…

Und Jean überlegt. Wiegt bedenklich den Kopf hin und her, wägt, wie es seine Art ist, die Möglichkeiten gegeneinander ab, zögert noch einmal – und dann wandert seine zitternde, von altersflecken übersäte Hand nach vorn, ergreift den Bauern auf G2 und setzt ihn auf G3.

Die Turmuhr von Saint-Sulpice schlägt acht. Die andern Schachspieler des Jardin du Luxembourg sind längst zum Aperitif gegangen, der Mühlebrettverleiher hat längst seine Bude geschlossen. Nur in der Mitte des Pavillons steht noch um die zwei Kämpfer die Gruppe der Zuschauer. Sie schauen mit großen Kuhblicken auf das Schachbrett, wo ein kleiner weißer Bauer die Niederlage des schwarzen Königs besiegelt hat. Und sie wollen es noch immer nicht glauben. Sie wenden ihre Kuhblicke von der deprimierenden Szenerie des Spielfeldes ab, dem Feldherrn zu, der bleich, blasiert und schön und unbeweglich auf seinem Gartenstuhl sitzt. »Du hast nicht verloren«, spricht es aus ihren Kuhblicken, »du wirst jetzt ein Wunder vollbringen. Du hast diese Lage von Anfang an vorausgesehen, ja herbeigeführt. Du wirst jetzt den Gegner vernichten, wie, das wissen wir nicht, wir wissen ja überhaupt nichts, wir sind ja nur einfache Schachspieler. Aber du, Wundermann, kannst es vollbringen, du wirst es vollbringen. Enttäusche uns nicht! Wir glauben an dich. Vollbringe das Wunder, Wundermann, vollbringe das Wunder und siege!«

Der junge Mann saß da und schwieg. Dann rollte er die Zigarette mit dem Daumen an die Spitze von Zeige- und Mittelfinger und steckte sie sich in den Mund. Zündete sie an, nahm einen Zug, blies den Rauch übers Schachbrett. Glitt mit seiner Hand durch den Rauch, ließ sie einen Moment über dem schwarzen König schweben und stieß ihn dann um.

Es ist eine zutiefst ordinäre und böse Geste, wenn man den König umstößt zum Zeichen der eigener Niederlage. Es ist, wie wenn man nachträglich das ganze Spiel zerstört. Und es macht ein häßliches Geräusch, wenn der umgestoßene König gegen das Brett schlägt. Jedem Schachspieler sticht es ins Herz.

Der junge Mann, nachdem er den König verächtlich mit einem Fingerschlag umgestoßen hatte, erhob sich, würdigte weder seinen Gegner noch das Publikum eines Blicks, grüßte nicht und ging davon.

Die Zuschauer standen betreten, beschämt, und blickten ratlos auf das Schachbrett. Nach einer Weile räusperte sich der eine oder der andre, scharrte mit dem Fuß, griff zur Zigarette. – Wieviel Uhr ist es? Schon Viertel nach acht? Mein Gott, so spät! Wiedersehn! Salut Jean! und sie murmelten irgendwelche Entschuldigungen und verdrückten sich rasch.