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Niemand von der Besatzung würde hungrig vom Tisch aufstehen.

In seiner geräumigen Kabine frottierte Juan Cabrillo seine nassen Haare, dann rasierte er sich und benetzte seine Wangen mit einem pimentölhaltigen Aftershave. Sein blonder Bürstenhaarschnitt bedurfte nur geringer Pflege, doch in den letzten Wochen hatte er sich einen Spitzbart stehen lassen, den er nun mit einer kleinen Schere sorgfältig stutzte. Angetan von seinem Werk blickte er in den Spiegel und lächelte. Er sah gut aus — ausgeruht, gesund und zufrieden.

Dann begab er sich in die Kabine und entschied sich für ein gestärktes weißes Oberhemd, den leichten grauen Schurwollanzug eines Londoner Maßschneiders, eine Seidenkrawatte, weiche graue Wollsocken und ein Paar schwarzer glänzender Cole-Haan-Sportschuhe mit Troddeln. Nachdem er die Sachen herausgelegt hatte, zog er sich an.

Während er den Knoten der rotblau gestreiften Krawatte band, überprüfte er seine äußere Erscheinung mit einem letzten kritischen Blick, dann öffnete er die Tür und ging durch den Korridor zum Fahrstuhl. Vor ein paar Stunden hatte sein Team von einer Drohung gegen den Emir erfahren. Mittlerweile war ein Plan angelaufen, der, falls er sich als erfolgreich erwies, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde.

Wenn sie jetzt auch noch die Atombombe wiederfänden, die auf der anderen Seite des Globus verloren gegangen war, dann könnte dieses Jahr durchaus positiv enden. Cabrillo hatte nicht die geringste Ahnung, dass er in nur vierundzwanzig Stunden über einer Eiswüste in Richtung Osten unterwegs wäre — oder dass das Schicksal einer großen Stadt an einem berühmten Fluss auf dem Spiel stünde.

3

Im Gegensatz zu der Wärme und Geselligkeit an Bord der Oregon wirkte die Szenerie und Stimmung in dem einsamen Lager am Mount Forel nördlich des Polarkreises auf Grönland um einiges düsterer und gedämpfter. Außerhalb der Höhle heulte der Wind, die Temperatur betrug minus fünfundzwanzig Grad Celsius ohne Berücksichtigung des Windabkühlungsfaktors. Es war der einundneunzigste Tag der Expedition und jegliche Spannung und Erregung waren längst verflogen. John Ackerman war müde, entmutigt und ganz allein mit der bitteren Erkenntnis einer Niederlage. Ackerman arbeitete für seinen Doktortitel in Anthropologie an der University of Nevada in Las Vegas. Sein augenblicklicher Lebensraum war von seiner vertrauten Wüstenlandschaft genauso weit entfernt wie ein untermeerisches Gebirge von einem Papagei. Die drei Helfer von der Universität waren nach Hause zurückgekehrt, sobald das Semester geendet hatte, und Ersatz würde frühestens in zwei Wochen eintreffen. Eigentlich hätte Ackerman selbst auch eine Pause einlegen sollen, doch er war geradezu von einem Traum besessen.

Seit jenem Moment, als er den obskuren Hinweis auf die Höhle mit dem geheimnisvollen Namen »Schrein der Götter« gefunden hatte, während er an seiner Doktorarbeit über Erik den Roten saß, hatte er sich unter den Zwang gesetzt, diese Höhle vor allen anderen zu finden. Vielleicht war ja die ganze Geschichte nur ein Mythos, dachte Ackerman, aber wenn der Schrein der Götter tatsächlich existierte, dann wollte er, dass sein Name und nicht der irgendeines Fremden mit dem Fund in Verbindung gebracht wurde.

Er rührte in der Dose Bohnen auf dem Stahlgestell des Kochers, der in dem Zelt stand, das er unweit des Höhleneingangs aufgeschlagen hatte. Auf Grund der Beschreibung, die er übersetzt hatte, war er sicher, dass dies die Höhle war, von der Erik der Rote auf seinem Sterbebett gesprochen hatte. Trotz monatelanger Bemühungen musste er jedoch immer noch die scheinbar solide Wand knapp zehn Meter tief im Höhleninneren überwinden. Er und seine Helfer hatten jeden Quadratzentimeter der Wände und des Bodens der Höhle eingehend untersucht, aber nichts gefunden. Die Höhle selbst sah aus, als sei sie von Menschenhand geschaffen, dennoch konnte sich Ackerman dessen nicht hundertprozentig sicher sein.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Bohneneintopf gleichmäßig angewärmt wurde, blickte er hinaus, um nachzusehen, ob die Antenne für sein Satellitentelefon nicht vom Wind umgeweht worden war. Sie befand sich unversehrt an Ort und Stelle, also kehrte er in die Höhle zurück und ging seine E-Mails durch. Ackerman hatte völlig vergessen, dass in der übrigen Welt Weihnachten gefeiert wurde, doch die entsprechenden Wünsche und Grüße seiner Freunde und Verwandten erinnerten ihn jetzt daran. Während er ihre Nachrichten beantwortete, breitete sich zunehmend Traurigkeit und Niedergeschlagenheit in ihm aus. Man schrieb einen Festtag, den die meisten Amerikaner mit ihrer Familie oder mit Freunden verbrachten, und er saß hier mitten im Nirgendwo, mutterseelenallein und auf der Jagd nach einem Traumgebilde, an dessen Existenz er schon nicht mehr richtig glauben konnte.

Nach und nach verwandelte sich die Traurigkeit in Wut. Indem er seine Bohnen völlig vergaß, nahm er die Coleman-Lampe vom Tisch und ging zum hinteren Ende der Höhle. Dort blieb er stehen und verfluchte halblaut die Folge der Ereignisse, die ihn einen der festlichsten Tage des Jahres in einer fernen und eisig kalten Wüste verbringen ließ. All seine mikroskopischen Untersuchungen und seine sorgfältige Staubpinselei hatten nichts gebracht.

Es gab überhaupt nichts — nur leeres Gerede. Morgen würde er das Lager abbrechen, das Zelt und das gesamte Material auf den Schlitten hinter seinem Schneemobil laden. Sobald das Wetter sich ein wenig besserte, würde er sich dann auf den Weg zur nächsten Stadt, Angmagssalik, knapp zweihundert Kilometer entfernt, machen.

Der Schrein der Götter würde ein Mythos bleiben. In einem plötzlichen Wutanfall stieß er einen lauten Fluch aus und schwang die mit Brennstoff gefüllte Laterne hoch und ließ den Griff am höchsten Punkt los. Die Laterne flog durch die Luft und krachte gegen das Felsdach der Höhle.

Der Glaskörper zersplitterte, und lodernder Brennstoff spritzte gegen die Decke und sickerte an den Felswänden herab. Dann, wie durch einen geheimen Zauber, wurden die Flammen durch die Risse über seinem Kopf gesogen. Die Reste der brennenden Flüssigkeit verschwanden in vier Spalten, die ein Quadrat bildeten.

Das Höhlendach, dachte Ackerman, wir haben nie das Dach untersucht.

Er ging zum Höhleneingang, öffnete eine Holzkiste und holte die dünnen Aluminiumröhren heraus, mit denen sie auf dem Höhlenboden ein Gitter für die genaue archäologische Untersuchung ausgelegt hatten. Jede der Röhren war knapp anderthalb Meter lang. In einem Gerätesack aus Nylon fand Ackerman eine Rolle Klebeband, mit dessen Hilfe er die Stäbe zusammenfügte, bis er eine etwa fünf Meter lange Stange erhielt. Diese ergriff er wie einen Speer und kehrte damit in die Höhle zurück.

Die zerbrochene Laterne lag noch immer brennend auf dem Höhlenboden. Der Metallkörper war verbeult, und der Glaskörper fehlte, aber sie verströmte weiterhin Licht. Er blickte zur Decke hoch und sah, dass der Qualm der mittlerweile verbrannten Flüssigkeit die nur undeutlich erkennbaren Umrisse eines Quadrats hinterlassen hatte.

Indem er die Stange gegen eine Seite des Quadrats stemmte, übte Ackerman einen behutsamen Druck aus.

Die dünne Steinplatte, die die Abdeckung bildete, wies abgeschrägte Kanten auf. Sobald er mit der Stange dagegen drückte, rutschte sie, gehalten von alten Holzdübeln, zur Seite, bis sie sich wie die Jalousie eines kunstvoll geschaffenen Fensters öffnete.

Dann, sobald die Klappe offen stand, fiel eine aus Walrosshaut geknüpfte Leiter herunter.

Ackerman war starr vor Staunen. Dann löschte er die immer noch brennende Laterne, kehrte zum Zelt zurück und stellte fest, dass sein Bohneneintopf überkochte. Er nahm ihn vom Kocher, dann suchte er eine Taschenlampe, einige Hilfsmittel für den Fall, dass er stecken bleiben sollte, sowie ein Seil und eine Digitalkamera zusammen. Schließlich kehrte er zu der Leiter zurück, um zu seiner Entdeckung hinaufzusteigen.