Изменить стиль страницы

Veber stand auf. »Aber um Himmels willen...« Er rechnete. »Dann sind Sie ja über ein Jahr für nichts im Gefängnis gewesen.«

»Nicht so lange. Nur zwei Monate.«

»Wieso? Sie sagten doch, im Wiederholungsfalle wären es schon sechs Monate?«

Ravic lächelte. »Es gibt eben keinen Wiederholungsfall, wenn man Erfahrung hat. Man wird unter einem Namen ausgewiesen und kommt einfach unter einem andern zurück. Möglichst an einer anderen Stelle der Grenze. So vermeidet man das. Da wir keine Papiere haben, ist das nur nachzuweisen, wenn jemand uns persönlich wiedererkennt. Das ist sehr selten. Ravic ist bereits mein dritter Name. Ich habe ihn seit fast zwei Jahren. Nichts passiert seitdem. Scheint mir Glück zu bringen. Gewinne ihn täglich lieber. Meinen wirklichen habe ich schon fast vergessen.«

Veber schüttelte den Kopf. »Und das alles nur, weil Sie kein Nazi sind.«

»Natürlich. Nazis haben erstklassige Papiere. Und sämtliche Visa, die sie wollen.«

»Schöne Welt, in der wir leben! Daß die Regierung da nichts tut.«

»Die Regierung hat einige Millionen Arbeitslose, für die sie zuerst sorgen muß. Außerdem ist das nicht nur in Frankreich so. Es ist überall dasselbe.« Ravic stand auf. »Adieu, Veber. In zwei Stunden werde ich wieder nach dem Mädchen sehen. Nachts auch noch einmal.«

Veber kam ihm nach zur Tür. »Hören Sie, Ravic«, sagte er, »kommen Sie doch einmal abends zu uns heraus. Zum Essen.«

»Bestimmt.« Ravic wußte, daß er nicht gelten würde. »In der nächsten Zeit. Adieu, Veber.«

»Adieu, Ravic. Und kommen Sie wirklich.«

Ravic ging ins nächste Bistro. Er setzte sich an ein Fenster, um auf die Straße blicken zu können. Er liebte das — gedankenlos dazusitzen und die Leute draußen vorbeigehen zu sehen. Paris war die Stadt, wo man mit nichts seine Zeit am besten verbringen konnte.

Der Kellner wischte den Tisch ab und wartete. »Einen Pernod«, sagte Ravic.

»Mit Wasser, mein Herr?«

»Nein. Warten Sie!« Ravic besann sich. »Bringen Sie mir keinen Pernod.«

Es war da etwas, das er wegspülen mußte. Ein bitterer Geschmack. Dazu war das süße Anis-Zeug nicht scharf genug.

»Einen Calvados«, sagte er zu dem Kellner. »Einen doppelten Calvados.«

»Gut, mein Herr.«

Es war die Einladung Vebers. Diese Spur von Mitleid darin. Jemand einmal einen Abend in der Familie möglich machen. Franzosen luden Freunde nur selten in ihre Häuser ein; sie erledigten das lieber in Restaurants. Er war noch nie bei Veber gewesen. Es war gut gemeint, aber man vertrug das schlecht. Gegen Beleidigungen konnte man sich wehren; gegen Mitleid nicht.

Er nahm einen Schluck von dem Apfelschnaps. Wozu hatte er Veber erklärt, warum er im International wohnte? Es war nicht nötig gewesen. Veber wußte, was er wissen mußte. Er wußte, daß Ravic nicht operieren durfte, das war genug. Daß er trotzdem mit ihm arbeitete, war seine Sache. Er verdiente dabei und konnte Operationen annehmen, die er sich nicht allein zu machen getraute. Niemand wußte davon — nur er und die Operationsschwester —; und die hielt dicht. Mit Durant war es dasselbe. Nur zeremonieller. Wenn der eine Operation hatte, blieb er bei dem Patienten, bis er narkotisiert war. Erst dann kam Ravic und machte die Operation, zu der Durant zu alt und zu unfähig war. Wenn der Patient dann später erwachte, erschien Durant wieder an seinem Bett als stolzer Operateur. Ravic sah den Patienten nur zugedeckt; er kannte von ihm nur die schmale, jodbraune Stelle Körper, die offen war für die Operation. Er wußte oft nicht einmal, wen er operierte. Durant gab ihm die Diagnose, und er begann zu schneiden. Er zahlte Ravic weniger als ein Zehntel dessen, was er selbst für die Operation bekam. Ravic hatte nichts dagegen. Es war immer noch besser, als nicht zu operieren. Mit Veber arbeitete er mehr kameradschaftlich. Veber zahlte ihm ein Viertel. Das war fair.

Ravic blickte durch das Fenster. Und sonst? Es war nicht viel, was übriggeblieben war. Er lebte, das war genug. Es lag ihm nichts daran in einer Zeit, wo alles schwankte, etwas aufzubauen, das in kurzer Zeit wieder zusammenstürzen mußte. Es war besser, zu treiben, als Kraft zu verschwenden, sie war das einzige, was unersetzbar war. Überstehen war alles, bis irgendwo wieder ein Ziel sichtbar wurde. Je weniger Kraft man dazu anwandte, um so besser; man hatte sie dann nachher. Ameisenhaft immer wieder in einem zusammenbrechenden Jahrhundert eine bürgerliche Existenz aufbauen zu wollen — das war das, woran er viele hatte scheitern sehen. Es war rührend, heroisch und lächerlich in einem — und nutzlos. Es machte mürbe. Eine Lawine war nicht aufzuhalten, wenn sie im Rollen war — wer es versuchte, kam darunter. Besser abzuwarten und später die Verschütteten auszugraben. Wenn viel marschiert wurde, mußte man leichtes Gepäck haben. Auf der Flucht auch...

Ravic blickte auf seine Uhr. Es war Zeit, nach Lucienne Martinet zu sehen. Und danach für das »Osiris«.

Die Huren im »Osiris« warteten schon. Sie wurden zwar regelmäßig von einem Amtsarzt untersucht; aber der Besitzerin war das nicht genug. Sie konnte sich nicht leisten, daß sich jemand in ihrem Lokal ansteckte, deshalb hatte sie mit Veber ein Abkommen getroffen, daß die Mädchen jeden Donnerstag noch einmal privat untersucht wurden. Ravic vertrat ihn manchmal dabei.

Die Besitzerin hatte einen Raum im ersten Stock als Untersuchungszimmer eingerichtet und ausgestattet. Sie war sehr stolz darauf, daß seit mehr als einem Jahr keiner ihrer Kunden sich in ihrem Etablissement etwas geholt hatte; dafür aber hatten, trotz aller Vorsicht der Mädchen, siebzehn Kunden Geschlechtskrankheiten eingeschleppt.

Rolande, die Gouvernante, brachte Ravic eine Flasche Brandy und ein Glas. »Ich glaube, Marthe hat etwas«, sagte sie.

»Gut. Ich werde sie genau ansehen.« »Ich habe sie schon gestern nicht mehr arbeiten lassen. Sie streitet es ab, natürlich. Aber ihre Wäsche...«

»Gut, Rolande.«

Die Mädchen kamen eine nach der anderen in ihren Hemden herein. Ravic kannte fast alle; es waren nur zwei Neue dabei.

»Mich brauchen Sie nicht zu untersuchen, Doktor«, sagte Leonie, eine rothaarige Gascognerin.

»Warum nicht?«

»Keine Kunden, die ganze Woche.«

»Was sagt die Madame dazu?«

»Nichts. Ich habe eine Menge Champagner gemacht. Sieben Flaschen jeden Abend. Drei Geschäftsleute aus Toulouse. Verheiratet. Wollten alle drei, aber genierten sich voreinander. Jeder hatte Angst, wenn er mit mir ginge, würden die andern zu Hause darüber reden. Soffen deshalb; jeder dachte, er würde allein übrigbleiben.« Leonie lachte und kratzte sich faul. »Der, der übrigblieb, konnte dann nicht mehr aufstehen.«

»Gut. Ich muß dich trotzdem untersuchen.«

»Meinetwegen. Haben Sie eine Zigarette, Doktor?«

»Ja, hier.«

Ravic machte den Abstrich und färbte ihn ein. Dann schob er die Glasplatte unter das Mikroskop.

»Wissen Sie, was ich nicht verstehe?« sagte Leonie, während sie Ravic beobachtete.

»Was?«

»Daß Sie, wenn Sie diese Sachen machen, noch Lust haben, mit einer Frau zu schlafen.«

»Das verstehe ich auch nicht. Du bist in Ordnung. Wer kommt jetzt?«

»Marthe.«

Marthe war blaß, schmal und blond. Sie hatte das Gesicht eines Botticelli-Engels, aber sie sprach den Jargon der Rue Blondel.

»Mir fehlt nichts, Doktor.«

»Das ist gut. Wir werden sehen.«

»Aber mir fehlt wirklich nichts.«

»Um so besser.«

Rolande stand plötzlich im Zimmer. Sie sah Marthe an. Das Mädchen sagte nichts mehr. Unruhig sah es Ravic an. Er untersuchte sie genau.

»Aber es ist nichts, Doktor. Sie wissen doch, wie vorsichtig ich bin.«

Ravic erwiderte nichts. Das Mädchen redete weiter — stockte und begann wieder. Ravic machte einen Abstrich und untersuchte ihn.

»Du bist krank, Marthe«, sagte er.

»Was?« Sie war mit einem Sprung auf. »Das kann nicht stimmen.«

»Es stimmt.«

Sie sah ihn an. Dann brach sie plötzlich los — eine Flut von Flüchen und Verwünschungen. »Dieses Schwein! Dieses gottverdammte Schwein! Ich habe ihm gleich nicht getraut, diesem glatten Aas! Student wäre er, sagte er, müsse es doch wissen, er wäre ja Medizinstudent, dieser Lump!«