Jetzt hatten wir eine herrliche Aufzeichnung für unsere Überwacher. Zwei Jungs werfen sich auf ihren Betten herum und spielen über Pocket-PCs Schach. Da soll erst einmal jemand versuchen herauszubekommen, welche Züge wir gerade machten. Wenn ein Tag bereits mit Abenteuern beginnt, dann endet er auch damit.
Wir lagen schon lange in den Betten, schliefen jedoch nicht, sondern unterhielten uns in der Dunkelheit über alles Mögliche. Die Wanze war zuverlässig manipuliert und übertrug lediglich unsere Atemgeräusche im Schlaf.
»Also ich glaube Folgendes«, dachte Lion laut. »Offensichtlich verdächtigt man uns. Wir kannten Stasj, waren zwei Monate lang verschwunden… Es ist unmöglich, dass sie uns nach diesen Fakten sofort vertrauen! Die Behörden haben aber keine wirklichen Gründe, uns festzunehmen. Deshalb wurde beschlossen, uns in dieser Schule unterzubringen, wo man uns leicht überwachen kann…«
»Das ist viel zu kompliziert«, bemerkte ich. »Ich glaube nicht an diese Art Wohltätigkeit!«
Lion setzte sich auf. Ich sah seine dunkle Silhouette vor dem Fenster. Im Park um das College herum war es dunkel, der Himmel war nachts mit Wolken bedeckt, aber entlang den Wegen leuchteten winzige verschiedenfarbige Lampen.
»Warum sollte sich die Direktorin sonst so um uns kümmern?«
»Und warum überwachen sie uns dann so schlecht?«, wandte ich ein. »Eine einzige Kamera, tss!«
»Vielleicht hat deine Peitsche die anderen nicht entdeckt?«
»Blödsinn!« Ich war beleidigt. »Sie hätte sie bestimmt gefunden.«
»Also ich habe gehört…«, begann Lion. Ich sollte aber nicht erfahren, was er so Interessantes gehört hatte, weil im offenen Fenster hinter Lions Rücken ein menschlicher Kopf erschien!
»Ah!«, schrie ich und sprang vom Bett auf. Lion drehte sich um, schrie ebenfalls, warf sich zur Seite und fiel auf den Boden.
»Leise!«, hörten wir eine bekannte Stimme.
Nach dem Kopf erschienen Hände, danach wuchtete sich unser nächtlicher Gast über das Fensterbrett und sprang auf Lions Bett.
»Natascha?«, fragte Lion verblüfft.
Es war wirklich Natascha. Aber in welchem Aufzug! Zuerst dachte ich wirklich, dass sie völlig nackt wäre. Danach erkannte ich, dass sie ein sehr eng anliegendes Trikot aus dunklem Stoff trug.
»Seid leise, hier können Wanzen sein!«, warnte Natascha schnell. »Das habe ich gleich…«
In der Hocke hob sie die rechte Hand — am Handgelenk leuchtete schwach ein Armband.
»Die Wanze ist über dem Türrahmen«, sagte ich. »Aber sie wurde schon unschädlich gemacht.«
»Wo? Wie?«, fragte Natascha und hielt ihre Hand in alle Richtungen. »Oh, wirklich… Wie habt ihr sie ausgeschaltet?«
»Das ist allein unsere Sache«, unterbrach ich sie. »Sag lieber, wie du hierhergekommen bist?«
Die Wände des Gebäudes waren, wenn ich mich richtig erinnerte, glatt, ohne Reliefs, nur mit bunten glatten Kacheln verkleidet.
Nicht einmal ein Alpinist würde hier ohne Gerät hochklettern können.
Anstelle einer Antwort erhob sich Natascha vom Bett, näherte sich dem Fenster, sprang leicht hoch, und schlug mit der Hand auf die Tapete. Sie hing an einer Hand.
»Anisotroper Kleber?«, rief Lion aus. »Den kenne ich, ich habe es im Film gesehen!«
Natascha führte die Handfläche nach oben über die Wand, sie löste sich und das Mädchen stand wieder auf dem Boden.
»Ja, anisotroper Kleber«, bestätigte sie enttäuscht. Sie hatte offensichtlich damit gerechnet, dass uns der Mund vor Staunen offen stehen würde. »Könnt ihr euch vorstellen, wie müde die Arme beim Hochziehen werden?«
»Cool«, begeisterte sich Lion und Natascha fühlte sich ein wenig geschmeichelt. »Und wie hast du uns gefunden? Und wie überhaupt… Was ist passiert?«
»Leute, habt ihr irgendetwas zu essen?«, antwortete Natascha mit einer Gegenfrage. »Ich habe seit dem Morgen kein bisschen gegessen.«
»Ich habe was«, gab ich zu.
Es ist natürlich nicht sehr kultiviert, vom Abendessen etwas mitzubringen. Ich hatte mir aber ein Sandwich mit Schinken und eine Teigtasche mit Kohl mitgenommen, einfach so, sicherheitshalber, für den Fall, dass Lion und ich vielleicht länger aufbleiben und Hunger bekommen würden.
Während ich das Essen holte, gab Natascha Lion eine sehr dünne Schnur, die aus dem Fenster hing. An deren Ende war ein Beutel mit Kleidung angebunden.
»Zieh das hoch!«, befahl sie. »Ich werde mir die Hände mit Seife waschen, Schweiß zersetzt den Kleber… Wo ist das Bad?«
»Einen Moment, ich mache das Licht an«, sagte ich und reckte mich zum Lichtschalter über dem Bett.
»Lieber nicht!«, bat Natascha. Es war jedoch schon zu spät, ich hatte die Lampe bereits angeschaltet.
Aha, das also war es! Natascha trug wirklich ein eng anliegendes Trikot, mit einer über den Kopf gezogenen Kapuze, aber das Trikot war durchaus nicht aus normalem schwarzem Stoff, wie ich anfangs dachte. Den Bruchteil einer Sekunde schien es, als ob das Licht verschwinden, nicht zu ihr herankommen würde. Nataschas Silhouette schien zu erzittern und sich in Luft aufzulösen. Danach wurde sie durchsichtig, man konnte die Wand hinter ihr sehen, lediglich das Gesicht schwamm in der Luft.
Ich streckte die Hand aus und traf sie in den unsichtbaren Bauch.
»Idiot!«, regte sich Natascha auf.
»Wie machst du das?«, wollte Lion wissen.
»Das ist Chamäleonhaut. Ein uralter Scherzartikel, kein Sicherheitsdienst benutzt sie heute noch. Sie reflektiert aber nicht und ist sehr leicht.«
»Woher hast du so eine Ausrüstung?«, fragte ich erstaunt. »Hast du das alles mitgehabt?«
»Jungs, ich möchte mich waschen«, bat Natascha. »Ich habe Angst, das Sandwich anzufassen, es klebt fest.«
»Stimmt, und dann verklebt es den Magen«, stichelte Lion. »Geh dich waschen.«
Er fing an die Schnur hochzuziehen, wickelte sie dabei über den Ellenbogen auf und Natascha verschwand im Bad.
»Das gefällt mir gar nicht«, sagte ich, als das Wasser im Bad rauschte.
»Natascha gefällt dir nicht?« Lion schaute mich unschuldig an.
»Mir gefällt nicht, dass sie hergekommen ist. Wir hatten uns nicht verabredet, also bedeutet es, dass irgendetwas passiert ist.«
Lion nickte. Er wickelte die Schnur zu Ende auf, holte das Päckchen und brachte es zum Bad. Er klopfte, und als Natascha die Tür öffnete, reichte er es ihr durch den Türspalt.
»Vielleicht hat der alte Semetzki eine Verbindung zum Avalon?«, überlegte ich. »Dann könnten wir alles berichten, was wir bisher herausgefunden haben.«
Natascha war schnell mit dem Waschen fertig. Sie erschien normal gekleidet in einem knielangen Rock und einer Bluse.
Im Beutel war sicherlich das Chamäleonkostüm versteckt.
»Iss erst einmal«, sagte ich. Solange sie aß, stellten Lion und ich keine Fragen, obwohl wir sehr gespannt waren. Es war schon zwei Uhr nachts, morgen würden wir unausgeschlafen aufstehen…
Plötzlich wurde mir klar, dass wir hier nicht aufstehen würden. Es war wirklich etwas passiert. Etwas, das unseren gesamten Plan, ruhig auf Neu-Kuweit zu leben und Informationen für die Phagen zu beschaffen, hinfällig machen würde.
»Natascha, wir sind nicht zufällig in dieses College geschickt worden, stimmt’s?«, fragte ich.
Natascha nickte und kaute den Rest des Sandwichs zu Ende. Ungeniert leckte sie sich die Finger ab. Sie hätte sich das sicherlich nicht erlaubt, bevor sie zum Partisanentrupp gekommen war. Wo ihr Großvater ein Millionär vom Avalon war… mit allen Schikanen des guten Tons, Etikette, zehn Gabeln auf dem Tisch…
»Sind wir aufgeflogen?«, fuhr ich fort, sie auszufragen.
»Nicht ganz.« Natascha schüttelte den Kopf. »Bislang nicht ganz… Habt ihr nichts anderes mehr? Jungs, es sieht folgendermaßen aus: Als ich euch am Ufer abgesetzt hatte, bin ich noch etwas weiter gefahren, dort gibt es eine Stelle…«
Sie winkte ab und entschloss sich die ganze Wahrheit zu sagen.
»Dort am Fluss ist eine alte Anlegestelle. Sie wird von fast niemandem benutzt. Der Wächter der Anlegestelle ist einer unserer Freunde, ein Mitglied des Widerstandes. Anfangs wollte ich mich bei ihm ausruhen und dann zurückfahren. Alles war in Ordnung, niemand hatte mich bemerkt, ich hatte mich nicht einmal erkältet, da er mich sofort in die Wanne gesteckt hatte, damit ich mich aufwärmte. Ich habe zwei Stunden darin geschmort!«