Supremes Leute brachen immer wieder in Hochrufe aus. Bolitho spürte, wie der Schmerz zurückkehrte, und hätte gern den Kopf in den Händen vergraben. Aber er ahnte, daß Stayt ihn beobachtete.
«Holen Sie bitte Leutnant Hallowes. «Er unterdrückte ein schmerzliches Aufstöhnen.»Wo ist Bankart?»
«Irgendwo«, erwiderte Stayt beiläufig. Mehr sagte er nicht.
Hallowes trat vor Bolitho hin.»Hier bin ich, Sir.»
Bolitho tastete nach seiner Schulter.»Das war tapfer.»
«Ohne meine Männer…«sagte Hallowes heiser.
Bolitho schüttelte ihn sanft.»Die Männer waren tapfer, weil sie Achtung vor Ihnen haben. Sie haben sie geführt, die Mannschaft folgte nur, wie sie es gelernt hat.»
Hallowes schwieg, und Bolitho wußte warum. Er lernte den Stolz und die Pein eines Befehlshabers kennen.
«Die Franzosen kommen bestimmt zurück«, sagte Hallowes.
«Heute nacht nicht mehr. Dank Sheaffe waren ihre Verluste zu hoch.»
Hallowes' Stimme klang, als grinse er.»Mit Verlaub, Sir, es war Ihre Idee.»
Bolitho schüttelte ihn an der Schulter, schien Körperkontakt zu brauchen. Ohne ihn fühlte er sich völlig abgeschnitten.»Rufen Sie ihn längsseits. Kann sein, daß wir dieses Boot brauchen.»
Stayt kehrte zurück und half Bolitho, sich sitzend gegen einen Niedergang zu lehnen. Alles redete durcheinander, Freunde suchten einander, andere saßen schweigend da und dachten an einen Kameraden, der gefallen oder schwer verwundet war.
Bolitho wußte, daß sie der Fregatte am nächsten Tag nicht würden standhalten können. Nachdem sie so blutig zurückgeschlagen worden waren, würden die Franzosen nun auf Rache aus sein und kein Pardon geben. Er spürte die anderen Offiziere in seiner Nähe. Was würde Hallowes tun?
«Was raten Sie, Sir?«fragte er.
Bolitho hielt sich die Hand vor die Augen, haßte den Anblick, den er bieten mußte.
«Wir müssen einen Ausbruchversuch wagen.»
Hallowes schien erleichtert.»Das wollte ich selbst vorschlagen, Sir.»
Seltsamerweise hatte Bolitho während dieses kurzen, heftigen Gefechts, bei dem er noch nicht einmal Zuschauer gewesen war, völlig die Orientierung verloren. Der Landvorsprung, das Kliff am anderen Ende der Bucht, die Felsenriffe — wo lagen sie?
«Mr. Okes…»
Okes rülpste, und Bolitho roch Rum. Der Mann hatte sich einen wohlverdienten Schluck genehmigt, wie Allday es nennen würde. Der Gedanke erinnerte ihn an Bankart. Wo war er geblieben? Inzwischen befand er sich wieder in der Nähe; er hatte seine Stimme mehrere Male gehört. Hatte er sich aus Feigheit verkrochen? Im Gefecht hatte jeder Angst. Er dachte an Allday und versuchte den Vorfall wie etwas Schmutziges zu verdrängen.
Okes schwatzte weiter.»Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, lasse ich jetzt das zweite Boot holen. Wir könnten Supreme klarwarpen. Der Wind hat etwas rückgedreht, wenn auch nur wenig, aber unser Prachtstück braucht ja nicht viel.»
«Danke, Mr. Okes«, sagte Hallowes.»Bitte kümmern Sie sich darum.»
Okes ging davon, und Bolitho konnte sich seine dicken Beine in den weißen Strümpfen vorstellen.»Dieser Mann ist Gold wert«, bemerkte er.
«Die anderen sind fort, Sir«, sagte Stayt.
Bolitho lehnte sich zurück und versuchte den Schmerz zu ignorieren, an etwas zu denken, das ihn ablenkte. Aber es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Der Schmerz wurde eher schlimmer, und Stayt merkte das. Er fragte leise:»Sollen wir mit den Franzosen verhandeln, Sir? Vielleicht kann ihr Schiffsarzt Ihnen helfen.»
Bolitho schüttelte heftig den Kopf.
«Ich mußte das erwähnen, Sir. «Stayt stand auf und lehnte sich ans Schanzkleid.»Vergeben Sie mir.»
Er dachte an Bolithos fanatische Entschlossenheit. Wenn der Mann nur schlafen und seinen Schmerzen entgehen könnte!
«Die beiden Boote kommen, Sir!«rief jemand. Bolitho rührte sich und verlangte nach Stayts Hand.»Helfen Sie mir auf!»
Stayt seufzte. Vielleicht hielt Bolitho mit dieser Kraft nicht nur sich, sondern auch die ganze Mannschaft zusammen.
Es war etwas Unwirkliches an der Art, wie die erschöpfte Mannschaft der Supreme sich anschickte, den Anker zu lichten. Bolitho blieb am Niedergang und versuchte, sich das Deck des Kutters vorzustellen. Unterhalb des langen Bugspriets lagen die beiden Schleppboote bereits in Position, bemannt mit den stärksten Seeleuten. Die Lotgasten flüsterten auf dem Vorschiff miteinander, und hinter sich hörte Bo-litho Okes die Rudergänger vergattern, während Hallowes' Aufmerksamkeit den Segeln galt. Jemand fluchte, weil eine französische Kanonenkugel ein Loch ins Bramsegel gerissen hatte, durch das zwei Leute gepaßt hätten.
Er versuchte ruhig zu bleiben, als Männer sich an ihm vorbeidrängten, als existiere er nicht.
Ein Decksoffizier rief gedämpft:»Anker ist kurzstag, Sir!«Bolitho fröstelte, als eine warme Brise die losen Taljen klappern und das Deck krängen ließ. Laut Hallowes lag der nächste Strand nur eine Kabellänge entfernt. Die Franzosen mußten dort Männer zurückgelassen haben und würden bald erraten, was Hallowes versuchte.
Okes sagte:»Klar bei Halsen und Schoten!«»Hol dicht — fier weg!«rief Hallowes.»Noch zwei Männer an die Backbordbrassen!«»Anker ist frei, Sir.»
Bolitho drehte den Kopf und versuchte, jedem neuen Geräusch ein Bild zuzuordnen. Der Anker wurde aufgeholt und gesichert, das Deck von losen oder gerissenen Leinen klariert. Fast die gesamte Besatzung war nun entweder in den Booten beschäftigt oder hielt sich bereit zu Segelmanövern. Wenn es zum Kampf kam, konnten sie von Glück sagen, wenn auch nur eine einzige Kanone rechtzeitig feuerte.
Okes zischte:»Abfallen, Junge!«Das Steuer knarrte, und Bolitho hörte das ungeduldige Killen eines Segels, an dem der Wind zupfte.
Ein Mann schrie schrill und eindringlich auf, doch seine Stimme klang erstickt, weit entfernt, und Bolitho begriff, daß es sich um einen der Schwerverwundeten unter Deck handelte. Der Schrei wurde höher, dünner, und Bolitho hörte einen Matrosen, der in seiner Nähe arbeitete, einen fürchterlichen Fluch ausstoßen, in dem er den Unbekannten drängte, doch endlich zu sterben und Ruhe zu geben. Der Schrei verstummte, als hätte der Verwundete die Verwünschung gehört. Zumindest für ihn war alles vorbei.
«Recht so!«Okes hob die Stimme, als der Kutter Fahrt aufnahm; die Riemen der beiden schleppenden Boote peitschten das Wasser wie Flügel. Nun mußten sich die Schlepptrossen aus dem Wasser heben und steifkommen. Sie hatten wieder Ruder im Schiff, und Okes' Stimme klang atemlos und zuversichtlich:»Gut gemacht, Jungs.»
«Wir müssen die erstbeste Durchfahrt nehmen, Sir. «Hallowes war neben ihn getreten.
Bolitho hatte ihn nicht kommen gehört.
«Ich habe Männer am Anker postiert, die ihn sofort werfen, wenn es Ärger gibt«, fuhr Hallowes fort und lachte in sich hinein.»Noch mehr Ärger.»
«Wie lange kann das dauern?«fragte Stayt.
«Bis wir frei sind«, versetzte Hallowes. Bolitho stellte sich vor, wie er unablässig in die Runde schaute, während sein Schiff qualvoll langsam vorankam. Die Pumpen knarrten. Bolitho vermutete, daß Supreme stark leckte.
«Fünf Faden!«rief der Lotgast.
Bolitho dachte an die Zeit, als er mit zwölf Jahren zum ersten Mal auf ein Schiff gekommen war. Wie der kleine Duncannon, dachte er, zu jung zum Sterben. Er konnte sich noch entsinnen, wie die Lotgasten im Nebel vor Land's End die Tiefe ausgesungen hatten. Die Marsstengen und nassen Segel des großen Linienschiffes Manxman waren von Deck aus schon nicht mehr zu erkennen gewesen.»Sechs Faden!»
Der Kutter hatte mehr als genug Wasser unterm Kiel, auch wenn sich seine Bilgen allmählich füllten.
Die Franzosen wissen nun Bescheid, dachte Bolitho, können aber nicht viel unternehmen. Das Geräusch der Pumpen und die Rufe der Lotgasten würden Supremes Vorankommen verraten.
Stayt wartete, bis Hallowes nach achtern gegangen war, dann sagte er: «Supreme ist zwar klein, Sir, aber in diesen Gewässern kommt sie mir vor wie ein Ungetüm.»