„Die sind unverändert, mein Freund“, antwortete der Empath. „Die Patientin empfindet eine allgemeine Besorgnis. Das gleiche Gefühl hatte ich schon nach ihrem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit und der Überwindung der anfänglichen Angst und Verwirrung festgestellt. Im Moment strahlt die DBPK Besorgnis, Traurigkeit, Hilflosigkeit und… und Schuldgefühle aus.

Vielleicht denkt sie an ihre toten Freunde…“

„Sie denkt an ihre Freunde, ja“, entgegnete Conway, drückte auf den Kopf der Dose und besprühte die kahle Stelle über dem Schwanz der Patientin mit der knallroten, chemisch inaktiven Schutzfarbe. „Aber sie denkt dabei an ihre Freunde, die leben.“

Die Farbe trocknete schnell und wurde zu einem stabilen, biegsamen Schutzfilm. Nachdem Conway noch eine zweite Schicht aufgesprüht hatte, zog die Patientin den Kopf unter dem Schwanz hervor und betrachtete den frisch versiegelten Fleck nackter Haut. Dann wandte sie das Gesicht Conway zu und musterte ihn fest mit ihren großen, sanften Augen. Conway unterdrückte den unwiderstehlichen Drang, ihr den Kopf zu streicheln.

Prilicla trillerte aufgeregt — diesen Laut konnte der Translator natürlich nicht übersetzen — und sagte dann: „Die emotionale Ausstrahlung der Patientin hat sich deutlich verändert, mein Freund. Statt tiefer Besorgnis und Traurigkeit empfindet sie jetzt hauptsächlich riesige Erleichterung.“

Genau dasselbe Gefühl herrscht bei mir im Moment auch vor, dachte Conway bewegt. „Tja, das war's dann wohl“, sagte er laut. „Die Gefahr einer Verseuchung ist gebannt.“

Alle auf der Station Anwesenden starrten ihn ungläubig an und strahlten dabei so heftige und gemischte Gefühle aus, daß sich Prilicla, wie von einem emotionalen Wirbelsturm geschüttelt, an der Decke festklammern mußte.

Colonel Skemptons Gesicht war vom Bildschirm verschwunden, so daß ihn allein die kantigen Gesichtszüge von O'Mara anstarrten.

„Conway“, rief der Chefpsychologe barsch. „Erklären Sie mir das!“

Conway begann seine Erläuterungen mit der Bitte, die von der Behandlung der DBPK-Patientin angefertigte Aufzeichnung zu starten, und zwar von einem Punkt an, der ein paar Minuten vor der Wiedererlangung ihres vollen Bewußtseins lag. Während sie kurz darauf noch einmal sehen konnten, wie Thornnastor, die kelgianische OP-Schwester und der Melfaner Edanelt ein kleines Stück vom Untersuchungstisch zurückgetreten waren, um den Sitz des Luftschlauchs der Patientin zu überprüfen, erklärte Conway: „Der Grund, warum niemand an Bord der Rhabwar während des Rückflugs zum Hospital in Mitleidenschaft gezogen worden ist, liegt in der ununterbrochenen Bewußtlosigkeit der Patientin begründet. Ob die beiden behandelnden Ärzte und die ihnen assistierende OP-Schwester nun von ihren Artgenossen als gutaussehend betrachtet werden oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen, aber auf ein Wesen, das mit ihnen zum erstenmal im Leben konfrontiert wird — und dazu noch nicht einmal erwachsen ist —, könnten sie optisch durchaus ziemlich abstoßend oder gar furchterregend wirken. Unter diesen Umständen sind die Angst und die Kurzschlußreaktion der Patientin durchaus verständlich. Aber achten Sie jetzt besonders auf die Reaktion des DBPK-Körpers, als sich die Patientin ein paar Sekunden lang physisch bedroht fühlte.

Die Augen sind weit geöffnet, der Körper ist versteift und der Brustkorb stark ausgedehnt“, beschrieb er die jetzt auf dem Hauptbildschirm ablaufende Szene. „Eine ziemlich normale Reaktion, da werden Sie mir sicherlich zustimmen. Anfangs ein kurzer Moment der Lähmung, gefolgt von einer Hyperventilation, damit die Lunge entweder für einen Hilferuf oder die Aktivierung der Muskeln zur schnellen Flucht mit soviel Sauerstoff wie möglich versorgt ist. Zu diesem Zeitpunkt galt unsere ganze Aufmerksamkeit dem Vorfall mit den drei medizinischen Mitarbeitern und dem betroffenen Teammitglied. Deshalb haben wir gar nicht bemerkt, daß der Brustkorb der Patientin mehrere Minuten lang ausgedehnt geblieben ist — sie hat nämlich den Atem angehalten.“

Auf dem Bildschirm stürzte Thornnastor jetzt schwer zu Boden, die kelgianische Schwester brach zu einem schlaffen Haufen Fell zusammen, die Unterseite von Edanelts knöchernem Panzer krachte lautstark auf den Boden und auch das Mitglied des Transportteams sackte zusammen. Alle anderen Anwesenden ohne Schutzanzüge rannten zur Drucktragbahre und den Atemmasken. „Die Auswirkungen dieser vermeintlichen Viren waren plötzlich und dramatisch“, fuhr Conway fort. „Vollständiger oder partieller Atemstillstand, Kreislaufkollaps sowie deutliche Anzeichen eines negativen Einflusses auf die willkürliche und unwillkürliche Muskulatur. Allerdings war bei den Betroffenen kein Anstieg der Temperatur festzustellen, was eigentlich bei einer körperlichen Abwehrreaktion auf eine Infektion zu erwarten wäre. Wenn man eine Infektion also ausschließen konnte, dann war die DBPK-Patientin gar nicht so schutzlos, wie sie aussah…“

Wie Conway in seinen Erklärungen fortfuhr, mußten die DBPKs auf ihrem Weg zur dominanten Lebensform ihres Planeten irgendein Mittel zur eigenen Verteidigung entwickelt haben. Oder in anderen Worten: Jedes Wesen, das einen Schutzmechanismus braucht, hat auch einen.

Wahrscheinlich waren die erwachsenen DBPKs irgendwann geistig flexibel genug, um Schwierigkeiten zu vermeiden und ihre Kinder zu beschützen, solange sie noch klein und leicht zu tragen waren. Doch sobald die Kinder für den elterlichen Schutz zu groß geworden und für den eigenen noch zu unerfahren waren, entwickelten sie einen Verteidigungsmechanismus, der gegen alles wirkte, das lebte und atmete.

Bei der Bedrohung durch natürliche Feinde stießen die jungen DBPKs ein Gas aus, das die Wirkung des alten terrestrischen indianischen Pfeilgifts Curare mit der Schnelligkeit späterer Nervengase in sich vereinigte.

Daraufhin kam die Atmung des Feinds zum Stillstand, und er stellte keine Bedrohung mehr dar. Dieser Schutzmechanismus war allerdings ein zweischneidiges Schwert, weil er bei jedem Sauerstoffatmer zur Bewußtlosigkeit führen konnte, auch bei den DBPKs selbst. Da aber das den Gasausstoß auslösende Ereignis gleichzeitig den betreffenden DBPK veranlaßte, die Luft anzuhalten, ließ sich daraus schließen, daß die giftige Substanz eine komplexe und wenig stabile Molekularstruktur besitzen mußte, die schon wenige Augenblicke nach der Freisetzung zerfiel und ungefährlich wurde. Und zu diesem Zeitpunkt stellte der Feind natürlich schon längst keine Bedrohung mehr dar.

Mit dem Aufstieg der Zivilisation, der Gründung von Städten und dem daraus resultierenden engen Zusammenleben von Wesen aller Altersgruppen wurde der Schutzmechanismus der DBPK-Kinder eher zu einer gefährlichen Funktionsstörung. Ein plötzlich erschrecktes und instinktiv reagierendes Kind konnte versehentlich eigene Familienangehörige, Passanten auf der Straße oder Klassenkameraden in der Schule außer Gefecht setzen. Deshalb bestrich und versiegelte man das Organ zum Gasausstoß, bis das Kind erwachsen und das Organ funktionsunfähig geworden war. Daß die auf das aktive Organ aufgetragene Farbe den braunen Flecken der ›ungefährlichen‹ Erwachsenen ähnelte, hatte nach Conways Ansicht wahrscheinlich psychologische oder soziologische Gründe… „… diese Patientin ist ein Mädchen in der Vorpubertät, gehört einer raumreisenden Spezies an und dürfte damit gerechnet haben, auf fremde Lebensformen zu stoßen“, fuhr Conway fort und wandte sich vom Bildschirm ab, als die Aufzeichnung zu Ende war. „Wegen ihrer Schwäche und der Körperverletzungen hat sie aber instinktiv reagiert, wobei ihr fast im selben Augenblick klargeworden ist, was sie angerichtet hatte. Nach Priliclas Angaben über die empfangenen Emotionen hatte sie starke Schuldgefühle, und es tat ihr furchtbar leid, was sie einigen ihrer Retter angetan hatte. Gleichzeitig fühlte sie sich völlig hilflos, weil sie uns nicht vor der noch immer akuten Gefahr warnen konnte. Aber jetzt haben wir sie praktisch ›entschärft‹, und deshalb ist sie sehr erleichtert. Ihre emotionalen Reaktionen lassen jedenfalls meiner Meinung nach darauf schließen, daß die DBPKs ausgesprochen liebenswürdige Wesen sind und…“