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Aber dann, eines Tages im März, saß Richis im Salon und sah, wie Laure hinaus in den Garten ging. Sie trug ein blaues Kleid, über das ihr rotes Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so schön gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie. Und dann dauerte es vielleicht nur zwei Herzschläge länger, als er erwartet hatte, bevor sie wieder auftauchte – und er war zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschläge lang gedacht, er habe sie für immer verloren.

In der gleichen Nacht wachte er aus einem entsetzlichen Traum auf, an dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, der aber mit Laure zu tun hatte, und er stürzte in ihr Zimmer, überzeugt, sie sei tot, läge gemordet, geschändet und geschoren im Bett – und fand sie unversehrt.

Er ging zurück in sein Gemach, schweißnass und bebend vor Aufregung, nein, nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, jetzt endlich gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn gepackt hatte, und indem er es sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich war, so hatte er von Anfang an nicht an die Wirkung des bischöflichen Bannfluchs geglaubt; auch nicht daran, dass der Mörder jetzt in Grenoble umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt überhaupt verlassen hatte. Nein, er lebte noch hier, mitten unter den Grassern, und irgendwann würde er wieder zuschlagen. Im August und September hatte Richis einige der ermordeten Mädchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie er zugeben musste, fasziniert, denn sie waren alle, und jede auf sehr spezielle Weise, von ausgesuchter Schönheit gewesen. Niemals hätte er gedacht, dass es in Grasse so viel unerkannte Schönheit gab. Der Mörder hatte ihm die Augen geöffnet. Der Mörder besaß einen exquisiten Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf die gleiche ordentliche Weise ausgeführt waren, auch die Wahl der Opfer verriet eine beinahe ökonomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis nicht, was der Mörder eigentlich von seinem Opfer begehrte, denn ihr Bestes: die Schönheit und den Reiz ihrer Jugend konnte er ihnen ja nicht geraubt haben… oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der Mörder, so absurd das klingen mochte, kein destruktiver Geist zu sein, sondern ein sorgfältig sammelnder. Wenn man sich nämlich – so dachte Richis all die Opfer nicht mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines höheren Prinzips vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen dächte, dann müsste das aus solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Schönheit schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, wäre nicht mehr von menschlicher, sondern von göttlicher Art. (Wie wir sehen, war Richis ein aufgeklärt denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen nicht zurückschreckte, und wenn er nicht in geruchlichen, sondern in optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.)

Gesetzt nun den Fall – so dachte Richis weiter – , der Mörder war solch ein Sammler von Schönheit und arbeitete am Bildnis der Vollkommenheit, und sei es auch nur in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt ferner, er war ein Mann von höchstem Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der Tat zu sein schien, dann konnte man nicht annehmen, dass er auf den kostbarsten Baustein zu jenem Bildnis verzichtete, den es auf Erden zu finden gab: auf die Schönheit von Laure. Sein ganzes bisheriges Mordwerk wäre nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Gebäudes.

Richis, während er diese entsetzliche Folgerung zog, saß im Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich darüber, wie ruhig er geworden war. Er fröstelte und zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die ihn seit Wochen geplagt hatte, war verschwunden und dem Bewusstsein einer konkreten Gefahr gewichen: Des Mörders Sinn und Trachten war ganz offenbar auf Laure gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk für diesen letzten krönenden Mord. Zwar blieb unklar, welchen materiellen Zweck die Morde haben sollten und ob sie einen solchen überhaupt besaßen. Aber das Wesentliche, nämlich des Mörders systematische Methode und sein ideelles Motiv, hatte Richis durchschaut. Und je länger er darüber nachdachte, desto besser gefielen ihm beide und desto größer wurde seine Hochachtung vor dem Mörder – eine Hochachtung freilich, die sogleich wie aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zurückstrahlte, denn immerhin war er, Richis, es ja gewesen, der mit seinem feinen analytischen Verstand dem Gegner auf die Schliche gekommen war.

Wenn er, Richis, selbst ein Mörder wäre und von des Mörders selben leidenschaftlichen Ideen besessen, hätte er auch nicht anders vorgehen können, als jener bisher vorgegangen war, und würde wie dieser alles daransetzen, sein Wahnsinnswerk durch einen Mord an Laure, der herrlichen, der einzigartigen, zu krönen.

Dieser letzte Gedanke gefiel ihm ganz besonders gut. Dass er in der Lage war, sich gedanklich in die Lage des künftigen Mörders seiner Tochter zu versetzen, machte ihn dem Mörder nämlich haushoch überlegen. Denn der Mörder, das stand fest, war bei all seiner Intelligenz gewiss nicht in der Lage, sich in Richis' Lage zu versetzen – und sei's nur, weil er gewiss nicht ahnen konnte, dass Richis sich längst in seine, des Mörders Lage versetzt hatte. Im Grunde war das nicht anders als im Geschäftsleben auch – mutatis mutandis, versteht sich. Einem Konkurrenten, dessen Absichten man durchschaut hatte, war man überlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr aufs Kreuz legen; nicht, wenn man Antoine Richis hieß, mit allen Wassern gewaschen war und eine Kämpfernatur besaß. Schließlich waren ihm der größte Duftstoffhandel Frankreichs, sein Reichtum und das Amt des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen, sondern er hatte sie sich erkämpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren beizeiten erkannt, die Pläne der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher ausgestochen hatte. Und seine künftigen Ziele, die Macht und Nobilität seiner Nachkommenschaft, würde er ebenso erreichen. Und nicht anders würde er die Pläne jenes Mörders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz an Laure – und wäre es nur deshalb, weil Laure auch den Schlussstein im Gebäude seiner, Richis', eigenen Pläne bildete. Er liebte sie, gewiss; aber er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner höchsten Ambitionen, das ließ er sich von niemandem entwinden, das hielt er fest mit Zähnen und mit Klauen.

Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine nächtlichen Überlegungen betreffs Kampf mit dem Dämon auf die Ebene einer geschäftlichen Auseinandersetzung herabzudrücken, spürte er, wie frischer Mut, ja Übermut ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das Gefühl von Verzagtheit und grämlicher Sorge, das ihn wie einen senilen Tattergreis gequält hatte, weggeblasen der Nebel von düsteren Ahnungen, in dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und fühlte sich jeder Herausforderung gewachsen.