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Zu Hause lege ich die schlafende Napirai ins Bett und sinniere über mein vergangenes Jahr. Es hat sich so viel verändert, aber ich fühle mich glücklich. Ich sitze in einer gemütlichen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung und empfinde sie auch nach fast einem Jahr als riesengroß im Vergleich zu meinen vorherigen Behausungen. Noch heute betrachte ich manchmal den Kühlschrank eine ganze Weile, bevor ich mir etwas Essbares heraushole. Einfach so, aus Achtung und Respekt. Ja, wir haben es geschafft und ich danke dem lieben Gott für alles, was mir im vergangenen Jahr widerfahren ist, und bin gespannt, wie das kommende Jahr 1992 wird.

Gleich zu Beginn des Jahres habe ich einen Untersuchungstermin bei meinem Hausarzt. Ich muss meine Blut- und Leberwerte kontrollieren lassen. Der Arzt, der meine Geschichte vom ersten Besuch her kennt, ist überrascht, wie gut erholt ich nach diesem Jahr aussehe. Das ist nicht verwunderlich, denn ich habe fast zehn Kilo zugenommen. Zwar bin ich immer noch sehr schlank, wirke aber nicht mehr mager. Bei den Blutwerten findet er nur noch wenige Malaria-Erreger, was bei der Häufigkeit, mit der ich diese schwere Tropenkrankheit hatte, höchst ungewöhnlich ist. Auch über die Leberwerte ist der Arzt verblüfft und kann es kaum glauben, dass ich als fast gesund einzustufen bin. Ich erkläre ihm, dass ich mich hier in der Schweiz nie mit meiner Krankheit auseinander gesetzt hätte, sondern mich schon bald als gesund betrachtet habe. »Anscheinend hat Ihre Einstellung viel dazu beigetragen, denn Sie haben sich in der kurzen Zeit so gut erholt, wie ich es noch nie erlebt habe«, sagt er erfreut und entlässt mich als gesund.

Der Januar ist kalt und nass. Die Termine laufen nicht so gut wie in der Weihnachtszeit. Die Menschen wirken abweisend und mürrisch. Auch mein Chef meckert, dass der Umsatz höher liegen könnte. Mir dagegen ist klar, dass im Januarloch nicht allzu hohe Erwartungen gestellt werden können. Das weiß ich noch aus meinen früheren Tätigkeiten. Er müsste das ebenfalls wissen, zumal er schon über 40 Jahre im Geschäft ist, wie er mir einmal stolz mitteilte. Im Moment bin ich jedenfalls um jede kleine Bestellung froh. Im Februar geht es bestimmt wieder bergauf.

Die einzige große Abwechslung ist der Karneval, der im Dorf gefeiert wird. Napirai macht das erste Mal mit und hat sich als Hexe verkleidet. Sie zieht mit einer Freundin los und freut sich über die närrischen Dinge, die um sie herum passieren. Ansonsten hat sie sich wunderbar bei der Pflegefamilie eingelebt. Es kommt sogar vor, dass sie noch gar nicht nach Hause möchte, wenn ich erscheine, weil sie so ins Spiel mit den anderen Kindern vertieft ist. Obwohl mich das am Anfang ein wenig schmerzt, bin ich auf der anderen Seite überglücklich, dass es ihr dort so gut gefällt.

Endlich erhalte ich den maschinengeschriebenen Brief aus Barsaloi. Ich bin überwältigt, dass James das zustande gebracht hat. Die ganze Familie freue sich und Mama habe vor Rührung sogar geweint, als sie erfuhr, dass sie hier in der Schweiz offiziell in ein Familienstammbuch eingetragen werden soll. Mit allem habe ich gerechnet, nur nicht mit dieser Reaktion. So laufen auch mir Tränen über das Gesicht, während ich meine Schwiegermama plötzlich wieder sehr vermisse. Nahezu alle Fragen sind beantwortet und das Schreiben ist von der Mission gestempelt. Sie bedauern nur, dass keine Geburtsurkunde und auch kein genaues Geburtsdatum von Lketinga existieren. Aber sogar über den verstorbenen Vater bekomme ich Auskunft. Oh, wie ich mich freue und der Schwiegermama danke für ihr Verständnis!

Voller Zuversicht gehe ich zum deutschen Konsulat und präsentiere dem Herrn den Brief. Wieder füllen wir unzählige Formulare aus. Einiges, was immer noch nicht klar genug aus dem Brief hervorgeht, muss ich eidesstattlich versichern. Erneut wird alles nach Berlin geschickt und es heißt weiter abwarten. Jedenfalls wird mir klar, dass dies keineswegs der letzte Besuch im Konsulat war.

In meiner Arbeit gibt es in Zürich schon bald keine Versicherung oder Bank mehr, bei der ich noch nicht vorstellig war. In Basel habe ich es sogar geschafft, am gleichen Tag einen Termin bei der Chemiefirma Sandoz und am Nachmittag bei Hoffmann La Roche zu bekommen. Das muss mir erst mal jemand nachmachen, denke ich zufrieden. Mitte März besuche ich spontan eine Bank, mit der ich ausgemacht hatte, dass ich alle drei Monate vorstellig werden kann. Die zuständige Einkäuferin hatte auch immer eine ganze Menge der teuren Markenfoulards bestellt. Ich betrete das Gebäude und frage nach ihr. Ganz überrascht erscheint sie und sagt: »Ja, wissen Sie denn nicht, dass ich vor drei Wochen in Ihrem Laden war und dort die Bestellung aufgegeben habe? Ich brauchte schnell einige Tücher und habe versucht, Sie telefonisch zu erreichen. Man hat mir angeboten, doch gleich selber im Geschäft vorbeizuschauen und deshalb habe ich dort alles ausgesucht und bin wieder für ein paar Monate eingedeckt.« Das erstaunt mich, denn davon habe ich nichts gewusst. Ich lasse mir aber nichts anmerken, verabschiede mich freundlich und verlasse die Bank. Zu Hause schaue ich meine Abrechnungen durch, finde aber keinen Vermerk über die Bestellung. So rufe ich am nächsten Tag meinen Chef an und frage nach. Erst versucht er, sich herauszuwinden, aber dann erklärt er, diese Bestellung gehe mich nichts an, weil die Dame im Geschäft nachbestellt hätte und nicht bei mir. Ich bin anderer Meinung, da es sich um eine von mir aufgebaute Kundschaft handelt und ihre Nachbestellungen meinem Umsatzkonto gut geschrieben werden müssten. Schließlich machen die Provisionen einen Bestandteil meines Lohnes aus. Er sieht das nicht ein und ich werde immer wütender, da ich annehmen muss, dass Ähnliches schon mehrmals geschehen ist. Es entsteht ein unschönes Wortgefecht. Ich kann nicht begreifen, dass er so uneinsichtig ist und stattdessen versucht, mir meine Kundschaft abspenstig zu machen. Da habe ich mit den Personalverkäufen zusätzlich oft bis in die Nacht hinein gearbeitet und nun fällt er mir derart in den Rücken. Ich bin furchtbar enttäuscht und fühle mich auf unverschämte Weise ausgenützt. So etwas kann ich nur schwer ertragen, reagiere dementsprechend und kündige auf der Stelle. »Ja, ja, dann machen Sie das doch!«, lacht er höhnisch und legt den Hörer auf. Nach kurzem Überlegen wird mir klar, dass er mich wirklich loswerden möchte, da ich ihm alle Kontakte hergestellt habe und er mein Gehalt nun einsparen könnte. Ich bin so wütend und enttäuscht, dass mir die Tränen hochsteigen. Verzeihen kann ich vieles, aber nicht, wenn mich jemand ungerecht behandelt. Also schreibe ich nur acht Monate, nachdem ich so erfolgreich meinen ersten Job begonnen hatte, meine Kündigung. Ich werde wieder etwas finden, davon bin ich überzeugt. Ein Zeugnis muss er mir auf jeden Fall schreiben und wehe, wenn das nicht korrekt ist! Schließlich haben sich eine ganze Reihe von Firmen, bei denen ich Personalverkäufe durchgeführt habe, schriftlich für die gute Organisation und meinen persönlichen Einsatz bedankt. Eine Woche später bringe ich den Wagen und die Kollektion zurück, nicht ohne vorher ausgemacht zu haben, dass ich mein ausstehendes Gehalt erhalten werde. Außerdem möchte ich mein Arbeitszeugnis vorab zum Gegenlesen bekommen. Es klappt erstaunlich gut und so trennen wir uns mit wenigen Worten. Obwohl ich in meinem ersten Job bis zu diesem Zwischenfall eine gute und glückliche Zeit hatte, bin ich froh, die Konsequenzen gezogen zu haben. Denn mir ist klar, dass es später ein noch unschöneres Ende genommen hätte.

Jetzt stehe ich also ohne Auto und ohne Arbeit da, aber mit einer Wohnung, die es neben allem anderen zu zahlen gilt. Am Abend fahre ich nach Rapperswil. Ich brauche Ablenkung und muss nachdenken.

Napirai schläft das erste Mal bei den Nachbarsmädchen, was ihr sehr gefällt. Im Laufe des Abends treffe ich alte Bekannte und erzähle von meiner Kündigung. Einer von ihnen gibt mir den Tipp, bei einer ihm bekannten Firma, die Werbeartikel vertreibt, nachzufragen. Wenige Tage später treffe ich mich mit den zuständigen Leuten. Das Angebot ist nicht überwältigend, doch es ist besser als nichts und man könnte einiges daraus machen. Es handelt sich um verschiedene Werbeprodukte wie bedruckte Feuerzeuge, Kugelschreiber, Mappen etc. In Bezug auf die Kundschaft sind keine Grenzen gesetzt. Jede Firma ist ein potentieller Kunde. Aber ich muss wieder ganz von vorne anfangen, da in meinem Gebiet noch keine Kundschaft aufgebaut ist.