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Mittlerweile ist es Hochsommer geworden und ich versuche immer, so früh wie möglich nach Hause zu kommen, um mit meiner Tochter noch draußen spielen zu können. In der neuen Wohnung haben wir uns wunderbar eingelebt. Die Nachbarskinder haben ihre helle Freude an Napirai und es herrscht ein emsiges Hin und Her zwischen den Wohnungen. Einmal sind alle Kinder bei mir, das andere Mal verschwindet Napirai für Stunden nach drüben. Es geht fast so turbulent zu wie in Kenia und wir sind glücklich. An schönen Abenden sitzt Madeleine bei uns und wir schwatzen oft bis in die Nacht hinein. Napirai schläft ohnehin besser, wenn sie noch Stimmen hört. Sie kann bei jedem Lärm einschlafen, dagegen gar nicht, wenn alles mucksmäuschenstill ist. Mit dem zusätzlich verdienten Geld habe ich einen Kohlegrill und für Napirai ein Planschbecken gekauft. Nun treffen sich die Kinder der halben Siedlung bei uns, was für wunderbare Fröhlichkeit sorgt. Wenn es regnet, ziehen wir Gummistiefel an und streifen durch den nahe gelegenen Wald. Meistens schließen sich ein oder zwei andere Kinder an. Ich sauge den Duft nasser Erde förmlich in mich hinein und freue mich über die grünen Wiesen und Wälder. Bei schönem Wetter bauen wir eine Feuerstelle im Wald und grillen mitgebrachte Würste. Das mögen alle Kinder. Ich selbst liebe den Geruch des Feuers, denn er erinnert mich an das Manyattaleben in Kenia. Meine Gedanken drehen sich jedes Mal um eines meiner vielen Erlebnisse an der Feuerstelle.

Oft grille ich auch zu Hause auf dem neuen Holzkohlengrill. An den Wochenenden ist immer etwas los. Entweder fahren wir mit Madeleine oder mit anderen Frauen aus der Gruppe an einen See zum Baden und Picknicken, oder wir gehen in die Berge und unternehmen kleine Wanderungen. Da immer mehrere Kinder und Frauen dabei sind, macht es allen Freude, und so manche wird von dem einen oder anderen Problem abgelenkt. Schon lange habe ich keine so schöne Sommerzeit mehr verbracht. Alles hat sich sehr schnell zum Guten gewendet. Der einzige Wermutstropfen ist, dass ich nicht weiß, wie es Lketinga geht, denn James hat nichts mehr von ihm gehört, seit er den Shop endgültig aufgegeben hat.

Über die Hürden der Bürokratie

Anfang September werde ich aus meinem euphorischen Hochgefühl abrupt herausgerissen. Es geht um meinen Antrag auf ein Familienstammbuch, den ich schon ganz vergessen hatte. Was ich nun lesen muss, zieht mir fast den Boden unter den Füßen weg. Nach deutschem Recht gelte ich noch als verheiratet, was bedeutet, dass Napirai den Familiennamen des Vaters tragen muss, es sei denn, beide Eltern hätten sich auf einen anderen Namen geeinigt. Außerdem ist der Name erst rechtsgültig, wenn er in einem deutschen Familienstammbuch oder in einem Personalausweis eingetragen ist. Zusätzlich soll ich die Geburtsurkunde meines Ehemannes vorlegen. Wie, um Gottes Willen, soll ich eine Geburtsurkunde herbeizaubern, die es gar nicht gibt? Auf einem Formular muss ich tausend Fragen über Lketingas Eltern beantworten. Wie soll ich mir nur all die nötigen Informationen beschaffen von einem Ehemann, von dem mir nicht einmal bekannt ist, wo er sich zur Zeit aufhält?

In meinem Kopf dreht sich alles und mir wird schlecht. Niemals würde Lketinga sein Einverständnis geben, dass Napirai meinen Namen trägt. Die Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz habe ich aber nur auf Grund der Tatsache erhalten, dass wir beide den gleichen Namen und die gleiche Nationalität haben. Ich drehe fast durch vor Angst, dass man mir Napirai wegnehmen könnte. Sollte unsere schöne neu aufgebaute Welt nur wegen ein paar idiotischer Paragraphen einstürzen? Oder sollte Lketinga, der mit unbekanntem Aufenthalt 10.000 Kilometer von uns entfernt lebt, etwa der gesetzliche Vertreter von Napirai sein?

Ich kann es kaum glauben, gehe die Fragen wieder und wieder durch und weiß nicht, wie ich sie jemals beantworten soll. Am liebsten würde ich alles in den Papierkorb werfen. Aber Napirai wird irgendwann einmal einen Personalausweis brauchen und dafür benötigt sie eine anerkannte Geburtsurkunde. Die aber muss in Kenia bestätigt werden. Mein Gott, wie kann das gehen? Langsam weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich tun soll. Völlig verzweifelt rufe ich bei meiner Mutter an, die mich zwar zu trösten versucht, mir aber auch nicht weiterhelfen kann.

Da keiner meiner Bekannten über einen solchen Fall Bescheid weiß, rufe ich beim deutschen Generalkonsulat in Zürich an und vereinbare einen Termin. Der zuständige Herr empfängt mich freundlich und zuvorkommend, doch er kann mir auch nicht viel dazu sagen. Die Gesetze seien eben so. Ich solle versuchen, über Lketingas Bruder mehr über die Familie zu erfahren. Dann würde er sehen, was er mit den Angaben anfangen könne und wie weit sie reichen würden.

Erschöpft und schwitzend verlasse ich das Konsulat und weiß im Moment nur, wie schwer alles sein wird. Ich denke an meine geliebten kenianischen Verwandten und daran, wie einfach und archaisch sie leben. Wie kann ich diesen Menschen erklären, dass wir das alles in unserer zivilisierten Welt brauchen? Sie, die nicht einmal ihren Geburtstag kennen und nicht verstehen, warum dieser überhaupt gefeiert wird, sollen nun sogar Angaben über Tote machen! Mir erscheint das absurd.

Weil ich aber keine andere Möglichkeit sehe, schreibe ich James einen langen Brief. Ich bitte ihn, all die vielen Fragen, so gut es geht, zu beantworten und sein Schreiben, falls möglich mit Schreibmaschine, von der Mission bestätigen zu lassen. Ich erkläre ihm noch, wie leid es mir täte, so viel Aufregung ins Dorf bringen zu müssen, aber für Napirai und mich sei dies alles sehr wichtig. Ohne viel Hoffnung schicke ich den Brief ab. Es wird sicher mehr als zwei bis drei Monate dauern, bis ich Bescheid bekomme, da James um diese Zeit in der Schule ist und erst zu Weihnachten nach Hause kommen wird. Napirais Geburtsurkunde und die Heiratsurkunde werden vom Konsulat nach Kenia geschickt, um sie beglaubigen zu lassen. Auch das wird eine Ewigkeit dauern.

Trotz dieser Aufregungen kehrt langsam der Alltag zurück und ich verdränge mögliche schlechte Nachrichten. Irgendwie wird sich auch dieses Problem lösen lassen.

Ein paar Wochen vor Weihnachten laufen meine Personalverkäufe prächtig, da sich die Produkte hervorragend als Geschenke eignen. Mein Chef ist mit mir sehr zufrieden und least für mich einen schönen neuen Wagen, weil mein alter Ford immer häufiger mitten in der Stadt stehen bleibt, wodurch sich schon etliche Terminprobleme ergeben haben. Bei jeder Autopanne jedoch bin ich beeindruckt, wie schnell und unkompliziert geholfen wird. Entweder hält ein anderer Autofahrer oder man ruft den Pannendienst und erhält innerhalb kürzester Zeit Hilfe. Wie anders waren doch die Probleme in Kenia! Da standen wir oft stunden-, wenn nicht tagelang draußen im Busch und niemand kam vorbei, um zu helfen. Mit der Zeit musste ich lernen, allein am Motor herumzubasteln oder die ewigen Reifenpannen selbst zu reparieren. Nur wenn der Landrover einmal im Schlamm oder in tiefem Sand stecken blieb, konnten mir die Einheimischen helfen, indem sie im Busch Holz für eine harte, griffige Unterlage schlugen. Stolz fahre ich mit dem neuen Wagen zu meiner Arbeitsstelle. Über Nacht hat es geschneit und die Straßen sind voller Matsch. Ich fühle mich sicher, da mir mein Chef beteuert hat, dass ich mit den Allwetter-Reifen auch bei winterlichen Verhältnissen fahren könne. Dennoch fahre ich vorsichtig und langsam. In einer Rechtskurve jedoch gehorcht mir der Wagen nicht mehr, rutscht auf dem matschigen Schnee einfach geradeaus und bleibt erst nach dem Aufprall auf ein geparktes Autos stehen. Ich bin geschockt. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Unfall. Dabei bin ich weiß Gott in Kenia die verrücktesten Wege gefahren, auf die sich sonst kaum jemand wagte. Ich kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte, zumal ich um die Kurve förmlich geschlichen bin. Das schöne neue Auto ist an der vorderen Seite schwer beschädigt und das geparkte Auto sieht auch nicht besser aus. Es öffnen sich verschiedenen Wohnungstüren und Fenster und bald steht eine aufgebrachte Frau vor ihrem neuen, nun aber demolierten Auto. Alles tut mir schrecklich leid und ich muss ständig daran denken, dass mir mein Chef den Kopf abreißen wird. Als der Mann der Geschädigten erscheint, der sich, welch eine Ironie, als Karosseriespengler erweist, sieht er gleich, dass ich keine Winterreifen auf dem Wagen habe. Ich glaube, ich höre nicht richtig und werde langsam hysterisch. Er beruhigt uns zwei Frauen und meint: »So schlimm, wie alles aussieht, wird es schon nicht sein.« Auch mein Chef reagiert am Telefon gelassen und sagt, er schicke einen Abschleppwagen vorbei. So endet meine erste Woche mit dem neuen Wagen. Ich erhalte einen Ersatz, bis mein Auto repariert ist. Den Rest würden die Versicherungen erledigen, beruhigt mich mein Chef. So einfach geht das hier.