Zwecke? Willen? — Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwecke und des Willens und an das Reich der Zufälle; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fällt darin, ohne dass Jemand sagen könnte wesshalb? wozu? — Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der grossen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meistens so kennen, dass es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schönen Zweck todtschlägt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabel: wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft todt getreten, — aber trotz alledem möchten wir nicht ohne die schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Unthiere kommen oft, wenn uns das Leben im Spinnennetze der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist und geben eine erhabene Diversion, dadurch dass ihre Hand einmal das ganze Netz zerreisst, — nicht dass sie es gewollt hätten, diese Unvernünftigen! Nicht dass sie es nur merkten! Aber ihre groben Knochenhände greifen durch unser Netz hindurch, wie als ob es Luft wäre. — Die Griechen nannten diess Reich des Unberechenbaren und der erhabenen ewigen Bornirtheit Moira und stellten es als den Horizont um ihre Götter, über den sie weder hinauswirken, noch — sehen können: mit jenem heimlichen Trotz gegen die Götter, welcher bei mehreren Völkern sich vorfindet, in der Gestalt, dass man sie zwar anbetet, aber einen letzten Trumpf gegen sie in der Hand behält, zum Beispiel wenn man als Inder oder Perser sie sich abhängig vom Opfer der Sterblichen denkt, sodass die Sterblichen schlimmsten Falls die Götter hungern und verhungern lassen können; oder wenn man wie der harte melancholische Skandinavier mit der Vorstellung einer einstmaligen Götter-Dämmerung sich den Genuss der stillen Rache schafft, zum Entgelt für die beständige Furcht, welche seine bösen Götter ihm machen. Anders das Christenthum mit seinem weder indischen, noch persischen, noch griechischen, noch skandinavischen Grundgefühle, welches den Geist der Macht im Staube anbeten und den Staub noch küssen hiess: diess gab zu verstehen, dass jenes allmächtige» Reich der Dummheit «nicht so dumm sei wie es aussehe, dass wir vielmehr die Dummen seien, die nicht merkten, dass hinter ihm — der liebe Gott stehe, er, der zwar die dunklen, krummen und wunderbaren Wege liebe, aber zuletzt doch Alles» herrlich hinausführe«. Diese neue Fabel vom lieben Gott, der bisher als Riesengeschlecht oder Moira verkannt worden sei und der Zwecke und Netze selber spinne, feiner noch als die unseres Verstandes — sodass sie demselben unverständlich, ja unverständig erscheinen müssten — diese Fabel war eine so kühne Umkehrung und ein so gewagtes Paradoxum, dass die zu fein gewordene alte Welt nicht zu widerstehen vermochte, so toll und widerspruchsvoll die Sache auch klang; — denn, im Vertrauen gesagt, es war ein Widerspruch darin: wenn unser Verstand den Verstand und die Zwecke Gottes nicht errathen kann, woher errieth er diese Beschaffenheit seines Verstandes? und diese Beschaffenheit von Gottes Verstande? — In der neueren Zeit ist in der That das Misstrauen gross geworden, ob der Ziegelstein, der vom Dache fällt, wirklich von der «,göttlichen Liebe «herabgeworfen werde — und die Menschen fangen wieder an, in die alte Spur der Riesen- und Zwergen-Romantik zurückzugerathen. Lernen wir also, weil es hohe Zeit dazu ist: in unserm vermeintlichen Sonderreiche der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen! Und unsere Zwecke und unsere Vernunft sind keine Zwerge, sondern Riesen! Und unsere eigenen Netze werden durch uns selber ebenso oft und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine! Und es ist nicht Alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger Alles Wille, was Wille heisst! Und, wenn ihr schliessen wolltet:»es giebt also nur Ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit?«— so ist hinzuzufügen: ja, vielleicht giebt es nur Ein Reich, vielleicht giebt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet. Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da müssen Würfe vorkommen, die der Zweckmässigkeit und Vernünftigkeit jedes Grades vollkommen ähnlich sehen. Vielleicht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Würfe — und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äusserste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, dass wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht! — Um über diess Vielleicht hinauszukommen, müsste man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben.
Die moralischen Moden. — Wie sich die moralischen Gesammt-Urtheile verschoben haben! Diese grössten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel Epiktet, wussten Nichts von der jetzt üblichen Verherrlichung des Denkens an Andere, des Lebens für Andere; man würde sie nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch nennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften für ihr ego und gegen die Mitempfindung mit den Anderen (namentlich mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht dass sie uns antworten würden:»habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder hässlichen Gegenstand, so denkt doch ja an Andere mehr, als an euch! Ihr thut gut daran!»
Die ausklingende Christlichkeit in der Moral. — »On n'est bon que par la pitié: il faut donc qu'il y ait quelque pitié dans tous nos sentiments«— so klingt jetzt die Moral! Und woher kommt das? — Dass der Mensch der sympathischen, uninteressirten, gemeinnützigen, gesellschaftlichen Handlungen jetzt als der moralische empfunden wird, — das ist vielleicht die allgemeinste Wirkung und Umstimmung, welche das Christenthum in Europa hervorgebracht hat: obwohl sie weder seine Absicht, noch seine Lehre gewesen ist. Aber es war das residuum christlicher Stimmungen, als der sehr entgegengesetzte, streng egoistische Grundglaube an das» Eins ist noth«, an die absolute Wichtigkeit des ewigen persönlichen Heils, mit den Dogmen, auf denen er ruhte, allmählich zurücktrat, und der Nebenglaube an die» Liebe«, an die» Nächstenliebe«, zusammenstimmend mit der ungeheuren Praxis der kirchlichen Barmherzigkeit, dadurch in den Vordergrund gedrängt wurde. Je mehr man sich von den Dogmen loslöste, um so mehr suchte man gleichsam die Rechtfertigung dieser Loslösung in einem Cultus der Menschenliebe: hierin hinter dem christlichen Ideale nicht zurückzubleiben, sondern es womöglich zu überbieten, war ein geheimer Sporn bei allen französischen Freidenkern, von Voltaire bis auf Auguste Comte: und Letzterer hat mit seiner berühmten Moralformel vivre pour autrui in der That das Christenthum überchristlicht. Auf deutschem Boden hat Schopenhauer, auf englischem John Stuart Mill der Lehre von den sympathischen Affectionen und vom Mitleiden oder vom Nutzen Anderer als dem Princip des Handelns die meiste Berühmtheit gegeben: aber sie selber waren nur ein Echo, — jene Lehren sind mit einer gewaltigen Triebkraft überall und in den gröbsten und feinsten Gestalten zugleich aufgeschossen, ungefähr von der Zeit der französischen Revolution an, und alle socialistischen Systeme haben sich wie unwillkürlich auf den gemeinsamen Boden dieser Lehren gestellt. Es giebt vielleicht jetzt kein besser geglaubtes Vorurtheil, als diess: dass man wisse, was eigentlich das Moralische ausmache. Es scheint jetzt Jedermann wohlzuthun, wenn er hört, dass die Gesellschaft auf dem Wege sei, den Einzelnen den allgemeinen Bedürfnissen anzupassen und dass das Glück und zugleich das Opfer des Einzelnen darin liege, sich als ein nützliches Glied und Werkzeug des Ganzen zu fühlen: nur dass man gegenwärtig noch sehr schwankt, worin dieses Ganze zu suchen sei, ob in einem bestehenden oder zu begründenden Staate, oder in der Nation oder in einer Völker-Verbrüderung oder in kleinen neuen wirthschaftlichen Gemeinsamkeiten. Hierüber giebt es jetzt viel Nachdenken, Zweifeln, Kämpfen, viel Aufregung und Leidenschaft; aber wundersam und wohltönend ist die Eintracht in der Forderung, dass das ego sich zu verleugnen habe, bis es, in der Form der Anpassung an das Ganze, auch wieder seinen festen Kreis von Rechten und Pflichten bekomme, — bis es etwas ganz Neues und Anderes geworden sei. Man will nichts Geringeres — ob man es sich nun eingesteht oder nicht — , als eine gründliche Umbildung, ja Schwächung und Aufhebung des Individuums: man wird nicht müde, alles das Böse und Feindselige, das Verschwenderische, das Kostspielige, das Luxushafte in der bisherigen Form des individuellen Daseins aufzuzählen und anzuklagen, man hofft wohlfeiler, ungefährlicher, gleichmässiger, einheitlicher zu wirthschaften, wenn es nur noch große Körper und deren Glieder giebt. Als gut wird Alles empfunden, was irgendwie diesem körper- und gliederbildenden Triebe und seinen Hülfstrieben entspricht, diess ist der moralische Grundstrom in unserem Zeitalter; Mitempfindung und sociale Empfindung spielen dabei in einander über. (Kant steht noch ausserhalb dieser Bewegung: er lehrt ausdrücklich, dass wir gegen fremde Leiden unempfindlich sein müssen, wenn unser Wohlthun moralischen Werth haben soll, — was Schopenhauer, sehr ergrimmt, wie man begreifen wird, die Kantische Abgeschmacktheit nennt.)